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Anatomie Einer Nacht

Anatomie Einer Nacht

Titel: Anatomie Einer Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kim
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einsetzte und erst ein Jahrzehnt später abgeschlossen war.
    Sie gestand sich auch ein, während der Helikopter, vom Wind mitgerissen, hin und her pendelte, dass es ihre Schuld war, dass Svea-Linn May erstochen hatte, genauso wie sie dafür verantwortlich war, dass ihr Sohn ohne Familie würde aufwachsen müssen, und dass sie sich von ihm zumindest hätte verabschieden können.
    Hätte Mikileraq an jenem Tag bloß eine halbe Minute mehr Zeit gehabt, hätte sie bemerkt, dass an dem Bettchen, in dem ihr Sohn lag, nicht ihr Name stand, sondern ein anderer. Das Kind, das als ihres angegeben war, lag drei Betten weiter und war ein Mädchen –
    Justine hatte sie angelogen.
    Justine Kuitse, eine von vier Krankenschwestern im Krankenhaus von Amarâq, war zum Zeitpunkt von Mikileraqs Entbindung zweiundvierzig Jahre alt und hatte die alleinige Aufsicht über die Neugeborenen. Sie selbst war kinderlos und lebte in einem kleinen roten Blockhaus in der Nähe des Hafens.
    1925, als die Bevölkerung Amarâqs durch eine Hungersnot dezimiert wurde, schneller und gnadenloser als all die Jahre zuvor, ergatterten Justines Großeltern als eine von zehn Familien einen Platz auf dem Schiff, das in den Nordosten Grönlands fuhr. Dort, hatte man ihnen versprochen, würden sie nicht mehr hungern müssen, denn es gäbe viele Moschusochsen und Eisbären zu erjagen. Dass Dänemark gerade mit Norwegen um die Vorherrschaft im Norden Grönlands stritt und sich durch die Um- und Neuansiedlung der Grönländer einen entscheidenden Vorteil zu verschaffen erhoffte, verschwieg man und tarnte die Maßnahme als Rettungsaktion –
    allerdings ließ man zehnmal so viele Familien in Amarâq zurück, von denen die meisten verhungern sollten.
    Kaum waren die Jäger samt Frauen und Kinder in Aputiq angelangt, in winzigen, schlecht beheizbaren Hütten, in denen es so kalt wurde, dass die Wände vereisten und die Räume mit den Tagen enger wurden, weil das Eis immer dicker wurde und das Zeitungspapier, eine Spende der benachbarten Polarforscher, nicht zum Isolieren ausreichte, kam eine Sonderanweisung aus Kopenhagen, dass der Moschusochse eine vom Aussterben bedrohte Spezies sei, die nicht gejagt werden dürfe. Daraufhin ließ Olaf, der Kolonieverwalter, allen Jägern mitteilen, dass jeder, der einen Moschusochsen tötete, nach Amarâq zurückgeschickt werden würde –
    eine furchtbare Strafe, obwohl die Situation vor Ort nicht viel besser war: Auch hier verhungerten immer mehr Menschen. Viele Tiere waren weiter in den Nordwesten gezogen, die Jäger mussten immer größere Strecken zurücklegen, um sie aufzuspüren und zu erlegen, doch selbst dann reichte die Beute kaum für alle. Die Moschusochsen aber waren in erreichbarer Distanz, außerdem waren sie zutrauliche Tiere, die die Nähe der Menschen nicht verschreckte, unmöglich, nicht der Versuchung zu erliegen, sie zu erbeuten, wenn tagtäglich die Schwächsten Aputiqs starben: Daniel, der mit elf Jahren in einen tiefen Graben fiel, aber zu schwach war, um aus dem Loch zu klettern, weil er seit Wochen kaum zu essen bekommen hatte, und schließlich dort verhungerte; Katinka, die an Tuberkulose erkrankte, aber nicht geheilt werden konnte, weil es weder Medizin noch einen Arzt gab; Jonas, der in seiner Hütte erfror, weil das Brennmaterial, das man den neuen Einwohnern gegeben hatte, nicht ausreichte; der Großteil stapelte sich in Olafs Küche.
    Als die Jäger auf ihren Streifzügen durch das vereiste Land, durch gefrorene Zeit, nichts deutete daraufhin, dass es hier, an diesem Ende der Welt so etwas wie eine Vergangenheit gab oder eine Zukunft, Gebeine fanden, die sich von den üblichen Funden unterschieden, brachten sie das Gerücht in Umlauf, die Dänen seien schon vor ihnen nach Aputiq gekommen und hätten die Ureinwohner getötet, und Jakob legte als Beweis einen menschlichen Schädel mit einem Einschussloch auf den vereisten Boden.
    Zu dieser Zeit führte Olaf ein Moschusochsentagebuch, in das er alle Verstöße gegen die Sonderanweisung eintrug.
    Wann?
    Juli 1932.
    Warum?
    Meine Hunde waren zu schwach, um weiterzulaufen, zwei von ihnen starben. Ich konnte nicht mehr weiterjagen, ich musste den Ochsen erlegen, sonst hätte meine Familie nichts zu essen gehabt, und sie hungert schon seit Monaten.
    Wer?
    Knud Kuitse.
    Justines Großvater, der wiederholt das Verbot missachtet hatte, wurde schließlich, im August 1932, samt Frau, Tochter, Söhnen, Brüdern und Schwestern zurück nach Amarâq geschickt. Nur

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