Anatomie Einer Nacht
Justines Vater und eine Tante überlebten die Hungersnot.
Viele Jahre danach, als der Hunger in der individuellen und kollektiven Erinnerung eine Anekdote geworden war, wurde Justine als Putzfrau im neugegründeten Krankenhaus angestellt. Später, als es politisch korrekt war, durfte sie sich um die Kranken und Neugeborenen kümmern –
doch Justine betreute nicht, sie half der natürlichen Auslese nach: Viele Mädchen erstickte sie, die Jungen aber verteilte sie an die Familien, egal, wer sie geboren hatte.
So gab es in den Achtzigerjahren in Amarâq viel mehr Buben als Mädchen. Eines der wenigen Mädchen, das Justine am Leben ließ, weil ihre Schwester sich ausdrücklich eine Tochter wünschte, war Inger. Sie schickte sie nach Ittuk, und Inger erfuhr nie, dass sie adoptiert worden war, obwohl sie immer das Gefühl hatte, nicht zu dieser Familie zu gehören, zwar geliebt, trotzdem aber die meiste Zeit nur geduldet zu werden, ein Sonderling, Wunderling, und Ingers leibliche Mutter erfuhr nie, dass der Junge, um den sie so oft weinte, weil sie, die in Island arbeitete, von ihm getrennt leben musste, eigentlich der Sohn einer Fremden war.
5 Am Ende der Welt ist es selbstverständlich, dass alle Enden zusammenlaufen, und es ist natürlich, dass dies während der Nacht geschieht, denn die Nächte in Amarâq sind Abschlüsse, sie sind der Punkt, an dem das Unvermeidbare seine Unvermeidbarkeit einsieht und sich ihr ergibt, weil die Schwärze eine Endgültigkeit in sich trägt, aber auch etwas Trostreiches. Sie bietet Geborgenheit innerhalb einer Verborgenheit, die sich nur dann entwickelt, wenn das Sehen abgestellt wird.
Doch darin liegt die Grausamkeit und Gefahr dieser Nächte. Sie federn nicht ab, sie gleichen nicht aus, sondern sie intensivieren, richten den Fokus auf den Schmerz und betonen ihn, indem sie die Zeit ausradieren, das Vergangene und das Zukünftige, und es mit einem Mal ausschließlich die Gegenwart gibt, das Hier und Jetzt.
Am nächsten Morgen, wenn das Ende nicht mehr übersehen werden kann, am nächsten Morgen vor dem Frühstück, wenn man mit noch empfindlichen Sohlen die Treppe hinuntergestiegen kommt, nach dem einen Menschen ruft, den man vermisst, bevor man wirklich wach ist, ihn auf dem Sofa findet, kalt, steif, mit einem Plastikbeutel über dem Kopf, und er nicht aufwacht, obwohl man ihn daraus befreit, hastig, eilig, danach an den Schultern rüttelt und ruft, er aber nicht reagiert, so dass man schließlich nicht anders kann, als im Krankenhaus anzurufen, obwohl man befürchtet, dass es zu spät ist, denn man hat auch die Schachtel mit den restlichen Schlaftabletten gefunden, wird man sich fragen, warum, und diese Frage wird alle anderen Fragen, die man noch stellen wollte, alle Erinnerungen, die man gemeinsam schuf, alle Gespräche, die einen an den Abenden, als die Nacht noch nicht angebrochen war, in den Schlaf begleiteten, überdecken, und das Leben, wie es bisher gelebt wurde, aus dem Gedächtnis löschen –
noch schläft Jørn, ahnungslos.
Wie bist du eigentlich an den Schlüssel gekommen?
Idi setzt sich zu Anders, tritt mit der Schuhspitze gegen die leeren Bierdosen. Anders zuckt mit den Schultern, grinst.
Gefunden.
Du findest aber viele Schlüssel.
Idi grinst zurück, Anders lacht verschwörerisch.
Sie finden mich.
Das Kaufhaus ist ein Ausschnitt der Welt jenseits der Berge, Fjorde und des Eises; es ist ein Planet für sich. Da seine Atmosphäre keine Sonnenwärme speichern kann, gibt es keine Temperaturunterschiede auf der Oberfläche, es hat immer siebzehn Grad. Es gibt keine Jahreszeiten, keine Gezeiten, im Erdgeschoss ist immer Nacht, der Tag beginnt, sobald man einen Schalter betätigt. Es ist ein leerer Planet, die Vegetation muss angeliefert werden, aber es reicht einzutreten, schon kann man sammeln und jagen, und das Jagen ist risikolos, es funktioniert nach anderen Regeln, Anschleichen ist nicht notwendig, Beschatten, die Beute sitzt an festgelegten, ausgeschilderten Plätzen und lässt sich bereitwillig einfangen, ohne Gewalt –
außer man kann nicht für das Jagdrecht bezahlen, dann muss man damit rechnen, von den Hütern verfolgt und verprügelt zu werden.
Anders fühlt sich hier geborgen, denn nichts scheint in dieser Welt aus den Fugen geraten zu können, alles ist stets an seinem Platz, selbst die Sonnenaufgänge und Sonnenuntergänge lassen sich steuern. Die Hallen mit ihren hohen Decken sind in dieser Form einzigartig in Amarâq, und wenn er die
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