Anatomie Einer Nacht
überzogen ist, Gitte regt sich nicht.
Sie sind beide tot.
Das tut mir leid.
Der Sprecher beugte sich aus dem Wagen, Lars erkannte ihn kaum wieder. Jens sah müde aus, bleich, er hatte noch dieselben herabhängenden Mundwinkel, dieselben Falten zwischen den Augenbrauen, und doch war etwas an ihm verändert, Lars konnte zunächst nicht sagen, was, er konnte es nicht an einer Sache festmachen, nicht an den Augen allein, die den Schock noch in sich trugen, auch nicht an der Stimme, die heiser war und ab einer bestimmten Lautstärke versagte und dennoch danach drängte, die Stille wegzureden, nein, all dies war es nicht. Dann fiel es Lars auf, an der kleinen Bewegung, mit der dieser ihn aufforderte einzusteigen: Jens hatte Angst.
Noch immer keine Reaktion, obwohl Lars an Marks und Gittes Schultern rüttelt, sie am Kinn fasst und ihre Köpfe hin- und herbewegt, ihre Körper zu Boden fallen lässt, Rücken voran. Gitte rührt sich, sie murmelt und macht sich schwer, Mark bewegt sich nicht. Lars beugt sich zu ihm, untersucht ihn. Er hat eine Platzwunde auf der Stirn und riecht nach Erbrochenem, es klebt an seinen Lippen und an der Wange, Lars öffnet Marks Mund, weicht zurück. Bringt sein Ohr, so nahe es ihm möglich ist, ohne sich selbst übergeben zu müssen, an Marks Lippen. Kein Atem. Lars sucht nach einem Puls. Kein Puls.
Jens brachte Lars bis an Oles Haustür. Bevor Lars ausstieg, fragte Jens, ob Lars von Julie gehört habe? Lars schüttelte den Kopf.
Julie ist tot.
Rückblickend, sagte er, sei es eigenartig gewesen, dass ein Mensch, so jung wie sie, so viel über die Unsterblichkeit nachgedacht habe, aber vielleicht sei das gerade die Voraussetzung.
Nur jemand, der so jung ist, glaubt an ihre Existenz.
Erst heute Morgen habe er sich daran erinnert, sagte Jens, dass sie einmal ihre Nase an seiner gerieben habe, er habe gesagt, ach, der Eskimokuss, sie habe energisch den Kopf geschüttelt und gesagt, die Nase sei die direkte Verbindung zur Seele, durch das Reiben ihrer Nase an seiner könne sie seine Seele riechen und sie habe ihn mit ihrer Nasenspitze angestupst und gesagt, seine Seele rieche gut, er sei ein guter Mensch.
Lars stieg aus. Jens wendete den Wagen, steckte seinen Kopf aus dem Fenster und sagte: Als sie damit drohte, sich umzubringen, habe ich sie ausgelacht.
Mikileraq stellt das Glas Wasser auf den Couchtisch, setzt sich auf das Sofa, nimmt die Tabletten aus der Schachtel und drückt die erste Pille aus dem Plastik –
ob May und Iven ein Paar gewesen seien, fragte Justine. Mikileraq schüttelte den Kopf, wenn ja, dann haben sie das geheim gehalten, niemand habe davon gewusst, auch sie nicht, und May sei eine gute Freundin gewesen, die beste, und sie verzog den Mund, als Ausdruck der Trauer über Mays Tod, und um das mulmige Gefühl im Magen zu vertreiben, als sie sich daran erinnerte, dass sie auf Svea-Linns Frage, ob es wahr sei, dass Iven eine andere geschwängert habe, nickte und sagte, ja, es sei wahr, und blitzschnell hinzufügte, May, denn von ihr hatte sie gerade erst gehört, dass diese im zweiten Monat schwanger sei –
die zweite und dritte Tablette drückt sie gleichzeitig auf ihren Handteller, lässt sie hin- und herrollen –
am nächsten Tag packte sie für ihre Reise nach Dänemark, obwohl sie erst in einem Monat fliegen würde. Sie ordnete ihren Besitz, verschenkte die Dinge, die ihr nichts bedeuteten und die sie nie wieder brauchen würde, andere wiederum warf sie weg, manches, alte Kleidung und Schuhe, sammelte sie in einem Beutel und gab ihn Jørgen, der beschlossen hatte, in Amarâq eine Zufluchtsstätte für Kinder und Jugendliche aufzubauen, ein Kinderheim. Es war ihr bewusst, dass sie plante, nie wieder zurückzukommen.
Die Tüte liegt auf der Tischplatte vor ihr, neben dem Glas. Sie nimmt die restlichen Tabletten, schluckt sie mit Wasser, stülpt sich den Beutel über den Kopf und verknotet ihn unter dem Kinn –
die Abschiede verliefen ruhig, sie hatte nicht viele Freunde, die wenigen begleiteten sie und ihre Tante zum Heliport, sie umarmte sie und stieg ein, setzte die Kopfhörer auf, die den Lärm abhalten sollten, die Türen schlossen sich, die Rotorblätter setzten sich in Bewegung, und der Hubschrauber hob ab. Von oben sah Mikileraq zum ersten Mal, wie Amarâq sich in diesen Teil der Welt einfügte, wie Land und Wasser zusammenhingen, die Fjorde, die Seen und die Flüsse, sie sah die Linien Grönlands und begann zu verstehen, ein Prozess, der damals
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