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Anatomie Einer Nacht

Anatomie Einer Nacht

Titel: Anatomie Einer Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kim
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Treppe in den ersten Stock nimmt, ist er inmitten von Schuhen, Spielzeug und Kleidung, die sich steif anfühlt, ungetragen, sie kommt aus Kartons und riecht so fremd, dass er sich nicht traut, sie anzugreifen. Nur wenn niemand hersieht, schlüpft er in einen Schuh, zieht ein Hemd über, um zu sehen, wie es sich anfühlt, etwas zu tragen, das niemandem gehört. Idi wird ihn nicht dabei beobachten, denn sie ist eingeschlafen, bei den Bieren, sie hat sich auf die Seite gerollt und schnarcht leise vor sich hin. Die Dose, aus der sie trank und die sie dann fallen ließ, ist ausgelaufen und hat eine gelbliche Pfütze auf dem Boden hinterlassen, einen kleinen Teich, in dem noch die Reste des Tages schwimmen, eine verirrte Erdnuss, ein Stück Kaugummi und ein Fitzelchen Papier.
    Aber was Anders am meisten freut: Die fremden Geräusche, die leisen Rufe, die Echos, das Kratzen an den Wänden, das dumpfe Knacksen über seinen Ohren, mit einem Wort, die Toten, die nach ihm rufen, können ihm nicht in diesen Bunker folgen.
    Hennings Besessenheit von Saras Geschichte hing mit seiner eigenen zusammen: Großvater Løvgreen war der Erste gewesen, der eine umfassende Chronik Grönlands von der Urzeit bis ins neunzehnte Jahrhundert geschrieben hatte, drei Bände, die die Verwandlung einer wilden in eine zivilisierte Welt erläuterten, zu einer Zeit publiziert, als die ersten Schritte in Richtung Unabhängigkeit unternommen wurden, Løvgreen selbst hielt sich fern von den Unterschriftenlisten, Podiumsdiskussionen, Expertenkommissionen, er träumte, bis er an Herzversagen starb, von einer Expedition in ein Land, das er ausschließlich von fremden Beschreibungen her kannte.
    Als Henning nach dem Abitur den Entschluss fasste, Eskimologie zu studieren, protestierte sein Vater. Was für eine Zeitverschwendung, was für eine Verschwendung von Talent und Geld, du wirst niemals eine gute Stelle finden und außerdem, was gibt es dort noch zu erforschen, alles ist geschrieben, was aufgeschrieben gehört, es gibt nichts Neues mehr, schon lange nicht, dieses Volk, sagte der Vater und holte tief Luft, ist einzig durch unsere Unterstützung am Leben, unsere Kinder dürfen nicht auch noch ihr Leben wegwerfen, weil sie sich mit etwas beschäftigen, das niemals wert war, erforscht zu werden!, und er stürmte aus dem Haus, ließ sich den ganzen Tag nicht blicken, und auch beim Abendessen ignorierte er seinen Sohn und sprach kein Wort mehr mit ihm, bis Henning das Studium aufgab, drei Jahre später.
    Damals allerdings, noch bevor Henning Sara kennenlernte, las er alles, was er über Grönland finden konnte, nicht nur, aber auch, weil es seinen Vater in eine Wut versetzte, die ihn amüsierte, nicht nur, aber auch, weil dieser ihm zum ersten Mal hilflos erschien. Um diesen Zorn zu steigern, ging Henning regelmäßig ins Grönland-Haus, er hatte es sich in den Kopf gesetzt, die Sprache zu lernen, außerdem genoss er den Kontakt mit diesen Menschen, die in seiner Familie so geringgeschätzt wurden. Die rebellische Ader, die er als Pubertierender unterdrückt hatte, kam nun zur Entfaltung: Er versuchte, sich mit so vielen Grönländern wie möglich anzufreunden, und brachte sie mit nach Hause, unangekündigt, dann verlor seine Mutter die Fassung, nicht nur, aber auch, weil sie Personen bedienen musste, die ihrer Meinung nach selbst zum Dienen geboren waren.
    An einem Abend im Mai kam Henning mit einer Grönländerin nach Hause, einer Lehrerin, die sich bereiterklärt hatte, ihm Nachhilfe in Grönländisch zu geben, und wann immer sie da war, führte er sie in sein Zimmer und schloss hinter sich ab. Er selbst setzte sich mit dem Rücken zur Tür und bemühte sich, sie möglichst oft zum Lachen zu bringen, und wann immer dies geschah, hörte er das Heraneilen von Füßen, die nervös vor seiner Zimmertür scharrten.
    Lars wartet wieder auf den Arzt, Tobias Boest müsste längst da sein. Er sieht auf die Uhr, beschließt, ihm noch fünf Minuten zu geben, dann wird er gehen, wohin, weiß er nicht, nach Hause wahrscheinlich, er ist sehr müde, vielleicht sollte er noch einmal nach Kuupik sehen, aber Magnus und Ole sind tot, ja, sie sind tot, er vermeidet es, den Satz laut auszusprechen, kann es, will es nicht glauben. Die Tatsache lässt sich nicht leugnen, dass er nicht da war, als es passierte, aber dass er es hätte verhindern können, denn er war schon einmal in einer ähnlichen Situation gewesen –
    Janus, er erinnert sich, rief ihn an, die Stimme ganz klein,

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