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Anatomie Einer Nacht

Anatomie Einer Nacht

Titel: Anatomie Einer Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kim
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weit weg, so dass er immer wieder nachfragen musste, was hast du gesagt, ich verstehe dich nicht, kannst du das bitte wiederholen, und verärgert meinte, ich rufe zurück, die Verbindung ist zu schlecht, aber endlich die Worte heraushörte, ich möchte tot sein, verstehst du denn nicht, ich möchte nicht länger leben, sie hat mich betrogen, sie liebt einen Anderen, warum verstehst du denn nicht, ich werde mich umbringen, hörst du, ich werde mich ertränken, ich kann nicht länger leben, und Lars sagte, nein, und ihm kam dieses Wort jämmerlich vor, nein, tu es nicht, sie ist es nicht wert, niemand ist es wert, und er fuhr fort, Dinge zu sagen, die jämmerlich klangen und waren, dumme Einsprüche, leere Argumente, sie ist es nicht wert, wie hatte er so etwas sagen können? Kein Wunder, dass Janus zornig auflegte –
    und er dachte damals, er hätte es geschafft, seinen Freund von dieser Idee abzubringen, indem er ihm eine Wutinfusion verabreicht hatte.
    Anders öffnet alle Schubladen, die er finden kann, streicht durch die Regalreihen, hält Ausschau nach Nischen, in die er schlüpfen kann. Sobald er ein Schlupfloch entdeckt hat, steigt er hinein, je nach Größe mit dem Auge voran, danach mit ein paar Fingern und schließlich mit der ganzen Hand. Bald sind alle geheimen Winkel enttarnt, lauter kleine Noteingänge, denkt Anders, oder vielleicht sind all die geöffneten Türen Flügel, die sich zum Abheben bereithalten, nun warten sie noch auf ein Signal, mein Signal, und würden wegfliegen, aber ohne mich, ich muss hierbleiben, in dieser Welt, in der es weder Tage noch Nächte gibt. Dieser Gedanke lässt ihn in der Bewegung innehalten, mitten im Laufen.
    Er rannte durch die Reihen, um schwindlig zu werden, er wollte den Gegenwind spüren, also breitete er die Arme aus, ließ die Luft zwischen den gespreizten Fingern hindurchströmen und simulierte die Geräusche eines Flugzeugs, er war schließlich kein Vogel, auch keine Mücke, aber er wusste, wie es sich anfühlte, in einem Flugzeug zu sitzen, so stellte er sich vor, selbst eines zu sein und die Welt von oben zu sehen –
    zum ersten Mal gelang der Trick mit dem Fliegen, und während er lief, den Wind spürte und zu ahnen begann, was es bedeutete, endlich frei zu sein, durchzog ihn eine Welle grenzenlosen Glücks.
    Da Henning seiner Lehrerin kaum etwas zahlen konnte, revanchierte er sich, indem er ihr Fahrstunden gab. Jeden Sonntag nahm er das Auto seiner Mutter, klaute zwei Flaschen Saft, selbstgemachten Kuchen, sie brachte Äpfel und selbstgetrockneten Fisch mit, und sie fuhren, meist auf Umwegen, ins Grüne. Sie bat ihn, Landstraßen zu nehmen, die sie an Feldern, Wiesen, Flüssen und Seen vorbeiführen würden, und manchmal packte sie ihn am Arm, dann blieb er stehen und beobachtete, wie sie es kaum erwarten konnte auszusteigen, um vom Straßenrand aus auf das Land zu blicken, und in solchen Momenten erschien sie ihm wie ein anderer Mensch: Die Leerstellen waren mit einem Mal gefüllt –
    eigenartig, sagte er während einer dieser Fahrten, alles in dir ist noch so, wie es verlassen wurde, damals, als der Abschied unvermeidlich war. Es ist, als würdest du darauf warten, dass der richtige Zeitpunkt wiederkehrt, damit du dort weiterleben kannst, wo du unterbrochen wurdest. Sie lachte und sagte, ich verstehe kein Wort. Die Strümpfe, die man für einen geliebten Menschen kaufte, aber nicht dazu kam, sie ihm zu geben, weil er vorher starb, antwortete er, die angebrochene Packung mit Keksen, die dieser nicht aufaß, seine Notizen neben dem Telefon, seine Stimme auf dem Anrufbeantworter, und er wollte diese Liste noch länger fortsetzen, als er merkte, dass sie nicht mehr neben ihm saß, sondern bloß noch ihr Panzer, an dem seine Worte abprallten.
    Es war immer er, der sie anrief, sie sehen wollte. Ein einziges Mal rief sie ihn an und fragte ihn, ob er sie in die Kirche begleiten wolle. In die Kirche?, fragte er, ja, sagte sie, und sie trafen sich vor den Toren, die Messe hatte schon begonnen, so setzten sie sich in die letzte Reihe. Er verstand nicht alles, denn der Gottesdienst wurde auf Grönländisch abgehalten.
    Ich wusste nicht, dass du gläubig bist, sagte er nachher, als sie vor der Kirche standen und eine Zigarette rauchten, bin ich auch nicht, sagte sie, aber ein Mal im Monat gehe ich in die Messe. Warum, fragte er, warum nicht, antwortete sie und schwieg, fügte aber leise hinzu, als sie seinen Blick bemerkte: Es geht um Reue und Schuld. Das verstehst

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