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Anatomie Einer Nacht

Anatomie Einer Nacht

Titel: Anatomie Einer Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kim
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du nicht.
    Erkläre es mir.
    Nein.
    Sie schüttelte ihren Kopf im Gehen, abwehrend, und er wusste in dem Moment, dass er sie nicht mehr wiedersehen würde, trotzdem folgte er ihr nicht und versuchte, sie aufzuhalten, sondern sah ihr nach und beobachtete, wie ihre Gestalt langsam von der Straße geschluckt wurde.
    Wie lange ein Mensch, den man liebt, nach dem Abschied noch in einem selbst weiterlebt, dachte Henning und konnte nicht anders, als ein Mal im Monat in die grönländische Messe zu gehen und nach Mikileraq Ausschau zu halten.
    Lars sieht Tobias Boests Auto schon von weitem, es folgt dem Straßenverlauf und bewegt sich auf der Fahrbahn wie ein kleiner Hügel.
    Er atmet aus, erleichtert, zieht seine Jacke an und verlässt Oles Haus. Schlendert das Straßenstück hinunter, biegt links vom asphaltierten Weg ab, geht die letzten hundert Meter in Richtung der Berge, weicht den Steinen aus, die zwischen den Büschen liegen, ein Slalom, bis er das Häuschen seiner Großmutter erreicht. Doch er geht nicht hinein, sondern zur Hütte, die daneben liegt. Hier verstaute sein Großvater die Netze, das Angelzubehör, die Plastikflaschen, die Messer, Gummistiefel und Jagdgewehre samt Munition.
    Er öffnet die Tür, tritt ein. Zieht sie hinter sich zu, dreht den Schlüssel, der an der Innenseite steckt, zweimal um, schließt sich ein. Er knipst das Licht an, die Hütte ist über und über verstaubt, der Staub, gemischt mit Erde, hat sich auf allen Oberflächen eingenistet und erschwert es, die Gegenstände, die hier gelagert werden, zu unterscheiden. Lars stellt die Schachtel mit den alten Schuhen und Gummistiefeln auf den Boden und greift nach dem Gewehrlauf, der unter ihr hervorlugt.

02:00 – 03:00

1    Ab drei Uhr morgens wird die Schwärze der Stadt von einem schmalen Streifen Licht infiltriert, der sie behutsam verdünnt, dann verwandelt sich Amarâq wieder in einen Raum: Aus der zweiten Dimension wächst die dritte, aus dem Himmel die Erde.
    Mit Herbstbeginn tragen die verschneiten Berggipfel zunehmend dichte Wolkenmäntel, das ständige Prasseln des Wassers im Tal der Blumen, das in der Dunkelheit innehielt, nimmt wieder seine Arbeit auf, der kalbende Gletscher unterbricht die Schreie der Möwen, die Fontänen der Wale, und der Nebel lässt die Berge wie eine andere Maserung des Himmels erscheinen. Langsam beginnt der Wind, die Kälte zu speichern, die sich im Laufe des Tages und Abends entladen wird.
    Wenn in der Morgendämmerung die tiefen, satten Rottöne in allen ihren Schattierungen von einem strahlenden Gelb durchzogen werden und die Stadt aus dem Zwielicht steigt, kommen der Fjord und die silbrig schimmernden Eisberge in die Welt, die Amarâq seit Urzeiten bewohnen, außerirdisch, unirdisch.
    Zwei Stunden später wird die Straße von den ersten Autos befahren, von einem Bagger sowie einem großen und einem kleinen LKW , die Baumaterial transportieren, Holz, aber auch Leitungen und Rohre. Sie fahren vom und zum Lager in der Nähe des Heliports, das an dem einen Ende der Straße liegt und an der langen Allee der roten, grauen und weißen Container erkennbar ist, die ein Spalier bis zur Mülldeponie bilden. Die Deponie wurde nicht extra angelegt, sondern mit der Zeit sammelten sich den Fjord entlang ausgemusterte Gegenstände an, zunächst einzelne Kleidungsstücke und Schuhe, danach kamen Reifen, Schränke ohne Türen oder Rückwand, dreibeinige Tische, teilamputierte Stehlampen und ausgeweidete Kühlschränke, Fernseher und Radios dazu. All das würde kein Bewohner Amarâqs als Müll bezeichnen, sondern als Dinge, deren Zweck noch abgewartet werden muss: Ersatzteillager.
    Eine Stunde später mischen sich zwischen die Nutzfahrzeuge die Personenwagen: Alle Ladenbesitzer, Emilia vom Buchgeschäft, Kristian vom Supermarkt, Gerd vom Kiosk und Katrine vom Kleinen Kaufmann fahren zum Heliport, um die bestellten Waren entgegenzunehmen. Sie bilden eine kurze Karawane, und wenn sie am Hubschrauberlandeplatz angekommen sind, bleiben sie manierlich, ein Auto hinter dem anderen, stehen. In genau dieser Reihenfolge warten sie auf ihre Lieferungen, die oft nicht größer sind als mittelgroße Pakete. Ihre Wagen sind beschriftet, ein verdrehter botanischer Garten, dachte Mikileraq, als sie das erste Mal den Botanischen Garten in Kopenhagen besuchte und bemerkte, dass dort jede Pflanze ein Etikett trägt, zu Hause ist es anders, dachte sie, da tragen Autos Etiketten, vielleicht ist Amarâq ein Autogarten, und sie musste

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