Anatomie Einer Nacht

eingetroffen und haben das Zerteilen der Beute übernommen. Ihre Männer konzentrieren sich auf das Verkaufen, zuerst aber streifen sie die Gummihandschuhe ab und zünden sich eine Zigarette an. Auf dem Marktplatz versammelt man sich für die Morgengespräche, ein Ritual, das davon lebt, dass sich dieselben Menschen am selben Ort um dieselbe Zeit treffen und plaudern, meistens erzählen sie den gleichen Tratsch wieder und wieder, denn der Vorrat an Geschichten ist in einer Stadt mit tausendfünfhundert Einwohnern schnell erschöpft.
    Heute Morgen besprechen sie die Anwesenheit der deutschen Journalistin Ella, sie fragen sich, was sie nach Amarâq geführt haben mag, ein Artikel über Ostgrönland, weiß einer, worüber genau, fragt ein anderer, die Natur, den Fremdenverkehr?, ein Raunen hebt an, nein, sagt ein Dritter, sie möchte über die Selbstmorde schreiben, ah ja, sagen alle und verstummen. Wie kam sie überhaupt hierher?, beginnt das Frage-und-Antwort-Spiel von neuem, wer hat sie mitgenommen, warum weiß sie von uns? Sie kam mit der Carlsen, sagt ein Vierter, mit wem?, Sivke Carlsen, sie brachte sie aus Kangerlussuaq mit, als sie dort arbeitete, bist du dir sicher?, wird diese Information angezweifelt, ja, lautet die Antwort, sie kamen zusammen aus dem Westen, und Sivke brachte die Journalistin bei Robert unter, und Robert machte sie mit Mikkel bekannt, der sie seit einem Monat im Fjord spazieren fährt, sie fahren fast täglich hinaus, verbringen sehr viel Zeit miteinander, zu viel!, ruft jemand, aber sie sind beide Europäer, wird widersprochen, sie verstehen einander, sie sprechen die gleiche Sprache, nein, Einspruch, sie spricht Deutsch, und es soll noch mehr vorgefallen sein auf diesen täglichen Ausflügen, munkelt einer ganz hinten, es würde mich jedenfalls nicht wundern, und ein Kichern hebt an, das die ganze Gruppe ansteckt und in ein Lachorchester mündet, denn der Morgen ist sonnig und schön, und niemand hat Inger bemerkt, die in den Taschen der Jäger und Fischer nach dem Abendessen suchte.
    Sie schüttelt den Kopf, als sie fragend angesehen wird, dreht sich um und geht, aber ihre Ohren bleiben noch an den Worten hängen: Er wird sie für diese Deutsche verlassen, so muss es doch kommen, es kann gar nicht anders sein, sie haben eine Affäre, und jeder weiß, dass es Mikkel hier nicht mehr lange aushalten wird, er wollte schon vor einem Jahr gehen.
    Nach dieser Mitteilung, die für niemanden neu ist, trennt man sich, manche gehen in den Hafen, die meisten nach Hause, und zwei Frauen gehen zu Marie, um sich die Haare schneiden zu lassen.
    Maries Küche verwandelt sich jeden Morgen zwischen zehn und zwölf Uhr in einen Frisiersalon, dann holt sie die vier Schachteln aus dem Kleiderschrank im Schlafzimmer, in denen sich Lockenwickler, Dauerwellenmittel, diverse Spraydosen und Schüsselchen mit Gel, Shampoo und Haarbalsam, Scheren, Rasierer, Bürsten und Kämme, Lockenstäbe und Haartrockner befinden, und stellt sie auf den Küchentisch. Die Tischdecke aus Plastik zupft sie zurecht und breitet eine alte Zeitung auf dem Boden aus. Sie kocht Kaffee, setzt Teewasser auf und blättert, während sie wartet, in einer Illustrierten von vor fünf Jahren und überlegt sich anhand von Fotos aus vergessenen und verlorenen Hochglanzmagazinen, wie sie diese vergangenen Frisuren nachschneiden, -föhnen und -drehen könnte.
    Die ersten Kundinnen treffen ein, zwei zur gleichen Zeit, die Stadtbewohner sind selten allein unterwegs, meistens in Gruppen oder Paaren. Die Freundinnen wollen keine neue Frisur, sondern bloß die alte nachgeschnitten haben. Sie unterhalten sich über den neuen Maniküresalon in der Nachbarschaft, unterdessen wühlt Marie in deren dauergewellten Haaren.
    In Amarâq blühen Geschäfte im Verborgenen, sie sind nicht durch Schilder ausgewiesen: Das Papiergeschäft ist hinter dem Krankenhaus, der Maniküresalon gleich daneben, die Putzfrau lebt in der Nähe des Heliports, die Kindergärtnerin dicht bei der Kirche, der Übersetzer neben der Polizei, die Friseuse beim Waisenhaus. Der Konditor bäckt im rosaroten Haus neben der Kunstwerkstätte SKUNK , die Schuhmacherin arbeitet nur, wenn ihr Mann auf der Jagd ist, die Schneiderin nur, wenn ihr Mann zu Hause ist, sie begleitet ihn auf die Jagd, der Schamane hat Betrieb, wann immer der Pastor auf Reisen ist, das Reisebüro ist in Emilias Buchgeschäft und verkauft ausschließlich Billetts für Fahrten mit dem Frachtschiff Johanna Kristina , das zweite