Anatomie
voller überfüllter Restaurants, lauter Bars und betrunkener Studenten. Stattdessen lenkte ich den Wagen jedoch nach links in die ruhigeren Bezirke von Sequoyah Hills, wo ich knapp einen Kilometer lang dem prächtigen Cherokee Boulevard folgte, bevor ich in das Gewirr aus dunklen, ruhigen Straßen abbog, in dem mein Haus lag.
Die meisten Häuser in Sequoyah Hills konnte man sich vom Gehalt eines Collegeprofessors gar nicht leisten, ja nicht einmal von zehn Professorengehältern. Die Häuser am Flussufer wurden zu besonders astronomischen Preisen gehandelt, manche gar für Millionen. Hier und dort in der wohlhabenden, bewaldeten Enklave verharrten – wie Bluthirse-Büschel im Rasen einer Villa – jedoch kleine Nester aus ganz gewöhnlichen Farm- und Halbgeschosshäusern, ja, an einem winzigen Park fand sich sogar eine Handvoll vermieteter Bungalows. In einem solchen Nest hatten Kathleen und ich vor dreißig Jahren ein charmantes Cottage aus den 1940er Jahren entdeckt – einen weiß getünchten Backsteinbau mit gemauertem Kamin, Schieferdach, einem Hof voller Hartriegel und Judasbäumen und einem nur ganz leicht ruinösen Preisschild. Alles in allem also der perfekte Ort für ein junges Akademikerpaar, um sich niederzulassen und eine Familie zu gründen. Und so war es auch. Bis es dann plötzlich nicht mehr so war.
Stattdessen hing mir das Haus jetzt am Hals wie ein Mühlstein, und heute Abend angelte ich – wie immer – den Schlüssel mit einem Gefühl böser Vorahnungen heraus. Der Riegel glitt auf, die Tür öffnete sich in schweigende Dunkelheit, und ich wusste, es war ein Fehler gewesen, nach Hause zu fahren. Im Flur klapperten meine Schritte über die Schieferplatten wie gefrorene Erde, die auf den schimmernden Deckel eines stählernen Sargs geschaufelt wird.
Ich duschte den Schmutz und den Sand von Cooke County ab und versuchte, mit viel heißem Wasser den Schmerz in Oberschenkeln und Schultern zu vertreiben. Mit einer Mischung aus sinkender Hoffnung und wachsendem Grauen stieg ich dann in mein ungemachtes Bett.
Stundenlang warf ich mich hin und her, und als ich endlich einschlief, träumte ich von einer Frau. Wie das bei Träumen oft ist, war es zuerst irgendeine unbestimmte Frau, die etwas Unbestimmtes tat. Dann sah sie mich an. Und plötzlich sah auch ich sie sehr viel deutlicher; sie wirkte verängstigt. Eine Hand streckte sich nach ihr aus und strich ihr über die Wange. Glitt dann um ihren Hals. Die Frau war, wie ich jetzt sah, meine Frau, und die Hand war, wie ich jetzt erkannte, meine eigene. Ein Flehen trat in ihren Blick, dann Bedauern. Und dann wurden ihre Augen zu leeren Höhlen und ihr Mund zu einem leeren Oval. Doch ich war derjenige, der schrie. »Kathleen!«
Mit pochendem Herzen, nassgeschwitzt und unter Tränen wachte ich auf – wie jede Nacht in den vergangenen zwei Jahren –, um festzustellen, dass ich allein im Bett war. Allein in unserem Bett. Nein – allein in meinem Bett. Meinem leeren, leblosen Bett in meinem leeren, leblosen Haus in meinem leeren, leblosen Leben.
6
Staatsanwalt Robert Roper bedachte mich mit einem betrübten Nicken, als ich, zerstrubbelt und mit glasigem Blick, in den Zeugenstand trat. In einem halben Dutzend Mordfällen hatte ich für Bob als Zeuge ausgesagt, doch heute war ich für die andere Seite angetreten, und zwar mit dem Ziel, Bobs Anklage zu entkräften, dass Eddie Meacham Billy Ray Ledbetter umgebracht hatte.
Als forensischer Anthropologe bin ich der Wahrheit verpflichtet, nicht der Staatsanwaltschaft oder der Polizei. In der Praxis bedeutet, die Wahrheit zu sprechen, normalerweise, für das Mordopfer zu sprechen, und in dieser Funktion sagte ich oft als Zeuge der Staatsanwaltschaft aus. Diesmal lag die Sache anders. Diesmal war ich überzeugt, dass Billy Ray Ledbetter nicht von seinem Freund Eddie umgebracht worden war. Allerdings ging es mir so gegen den Strich, diese Wahrheit ausgerechnet für den Verteidiger, der mich in die Sache reingezogen hatte, auszusprechen, dass sie mir vor Verärgerung wahrscheinlich fest im Hals stecken bleiben würde und man mich an Ort und Stelle im Zeugenstand mit dem Heimlich-Manöver würde retten müssen.
Der Justizwachtmeister ratterte die Fragen herunter, die wahrscheinlich immer gestellt wurden, wenn jemand vereidigt wurde – er sprach so schnell, dass ich überlegte, ob er wohl einen Nebenjob als Auktionator hatte –, und ich stimmte allem zu. Dann stand Burt DeVriess auf, um mich zu befragen, und ich
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