Anatomie
spürte, wie ich in Harnisch geriet.
Ich ermahnte mich, dass ich als Zeuge für DeVriess und seinen Mandanten hier war, aber es fiel mir nicht leicht, jahrelange Animosität zu unterdrücken. In fast allen Mordprozessen im Osten von Tennessee, in denen ich als Zeuge für die Staatsanwaltschaft ausgesagt hatte, hatte DeVriess – örtliche Polizisten hatten ihm den Spitznamen »der Fiese« verpasst – als Verteidiger fungiert. Je schuldiger man war und je abscheulicher das Vergehen, desto dringender brauchte man den Fiesen. Wenigstens schien es so. Serienvergewaltiger, Kinderschänder, Drogenbosse, eiskalte Killer: Der Abschaum der Menschheit – oder Unmenschheit – war Burt DeVriess’ einträgliches Geschäft. Ich hatte ihm schon ein Dutzend Mal im Zeugenstand gegenübergestanden, und sein Kreuzverhör hatte mich jedes Mal auf die Palme gebracht. Wobei diese Wut auch die natürliche Reaktion auf die Struktur unseres Rechtssystems war, das auf der Verhandlungsmaxime beruhte – und die mochte ich nicht besonders. Es konnte einen verrückt machen, wenn man eine akribische forensische Untersuchung durchführte und dann mit ansehen musste, wie diese von in den Zeugenstand berufenen Karrieristen – weithin bekannt als »Verteidiger-Huren« – hinterfragt und untergraben wurde: Ja, theoretisch, nehme ich an, ist es, wie Dr. Brockton behauptet, durchaus möglich, dass die Schädelfraktur durch den blutigen Baseballschläger verursacht worden sein könnte, den man neben der Leiche gefunden hat. Meiner Meinung als Sachverständigem zufolge ist die Fraktur jedoch sehr viel wahrscheinlicher die Folge des Einschlags eines großen, unförmigen Hagelkorns …
Obwohl ich solche weit hergeholten Vermutungen verabscheute, betrachtete ich sie als notwendiges Übel. Doch was ich DeVriess weder vergeben noch vergessen konnte, war die Art, wie er geschickt und äußerst hinterhältig meine berufliche und persönliche Integrität angriff. Seine Lieblingsmethode war, eine ungeheuerliche Unterstellung in Frageform vorzubringen, die natürlich sofort abgewiesen wurde … nachdem sie sich den Geschworenen unauslöschlich eingeprägt hatte. »MISTER Brockton, haben Sie Ihre Ergebnisse dahingehend manipuliert, dass sie zu der Theorie der Staatsanwaltschaft passen, so wie Sie es in demunddem Verfahren vor drei Jahren gemacht haben?« (»Einspruch!« »Stattgegeben.« »Zurückgezogen.«) Jedes Mal, wenn ich gegen DeVriess in den Ring ging, wusste ich, dass so ein Schlagabtausch kommen würde, und trotzdem wurde ich jedes Mal aufs Neue fuchsteufelswild, wenn es dann passierte. Was natürlich genau der gewünschte Effekt war.
Wenn ich diesen Mann und seine Taktiken also so sehr verachtete, warum um alles in der Welt wollte ich in einem Mordprozess für seinen Mandanten aussagen? Weil er wieder einmal mit mir gespielt hatte wie mit einem Fisch an der Angel und mich diesmal auf seine Seite des Gerichtssaals gezogen hatte. Vor ein paar Wochen hatte er mich zum Mittagessen eingeladen – »um das Kriegsbeil zu begraben«, wie er sagte –, und tatsächlich war er während des Essens freundlich und versöhnlich, lobte meine Forschungsarbeit, lobte meine Studenten und entschuldigte sich für seine aggressive Verteidigungstaktik. Beim Dessert warf er dann den Köder aus. Er habe einen Fall, bei dem er meinen Rat brauchen könne, sagte er, denn im Zusammenhang damit sei er auf das seltsamste forensische Rätsel gestoßen, das ihm je untergekommen sei. Er stellte eine Reihe unschuldiger hypothetischer Fragen über die Skelettstruktur und Stichverletzungen – »Wenn ein Mensch erstochen wird, kann die Messerschneide doch Spuren an den Knochen hinterlassen, die sie berührt, oder? Können Metallpartikel von der Schneide daran zurückbleiben oder Rückstände von einem Wetzstein? Was ist mit demunddem?« Meine Antworten nahm er mit gespannter Aufmerksamkeit auf und fragte präzise nach. »Ja, aber wenn das Messer eine dünne, biegsame Schneide hatte? Wenn das Opfer eine Wirbelsäulenverkrümmung hatte?« Viel zu spät – erst als ich längst zuckend in seinem Fischkorb lag – dämmerte mir, dass er den Haken während des ganzen mit Schokolade versüßten Gesprächs beständig tiefer ins Wasser hatte gleiten lassen. Der Fiese, der schlaue Scheißkerl, hatte sowohl an meine wissenschaftliche Neugier appelliert als auch an meinen Sinn für Gerechtigkeit. Als er die Rechnung bezahlte, schloss er mit einer Litanei besorgniserregender Behauptungen
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