Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Anatomie

Anatomie

Titel: Anatomie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bass jefferson
Vom Netzwerk:
die letzten beiden Ziffern der Jahreszahl, gefolgt von der Fallnummer. In meinen ersten Jahren als amtlicher forensischer Anthropologe waren mir die einstelligen Zahlen nie ausgegangen – es war erstmals 1990, als ich eine so hohe Zahl wie 90-10 brauchte. In den vergangenen zehn Jahren jedoch hatte ich mich allmählich über die Zwanziger zu den Dreißigern vorgearbeitet.
    Wir fingen am Kopf an und arbeiteten uns nach unten vor. Wir würden versuchen, die Schädelaufnahmen mit den zahnärztlichen Röntgenaufnahmen vermisster Personen zu vergleichen – falls wir irgendwelche Vermissten fanden, auf die die Beschreibung unserer Leiche passte. Zusätzlich würden wir die Röntgenaufnahmen nach Anzeichen für Knochenverletzungen absuchen, wie etwa Brüche oder Schnittverletzungen oder röntgenstrahlenundurchlässiges Material wie Blei. Selbst wenn eine Kugel einen Körper ganz durchdrungen hat, hinterlässt sie im Innern des Schädels oder an einer Rippe oft eine verräterische Schmiere oder einen Spritzer.
    Ich schob die Röntgen-Kassette im Bereich des Kopfes unter den Leichensack, und Miranda machte die Aufnahme. Dann holte ich die Kassette heraus und hielt sie ihr hin, und sie nahm sie mit der linken Hand und reichte mir im Tausch dafür mit der rechten Hand eine unbelichtete Kassette. Wir arbeiteten wortlos, schließlich hatten wir das schon unzählige Male gemacht und hätten diesen makabren Tanz im Schlaf aufführen können.
    Nachdem wir den Kopf geröntgt hatten, machten wir Aufnahmen von Brust, Bauch und schließlich Becken. Außer den Knochen würden die Röntgenaufnahmen des Beckens uns auch alle metallischen Objekte zeigen, die in den Taschen der Kleidung gewesen waren. Obwohl die Kleidung selbst verrottet war – ein Hinweis darauf, dass sie ganz aus Baumwolle war und also wohl ziemlich alt –, konnten in der Adipocire um Hüfte und Oberschenkel durchaus kleine Objekte enthalten sein, die in den Taschen gewesen waren.
    Während Miranda den Röntgenapparat wegbrachte, schob ich die Trage in den Kühlraum. Miranda rief: »Untersuchen wir die nicht mehr heute Abend?«
    »Es ist schon ziemlich spät. Wie wär’s mit morgen? Wie der Sheriff schon sagte, eine weitere Nacht macht bei dieser Leiche nichts mehr aus. Abgesehen davon muss ich morgen früh im Mordfall Ledbetter sehr früh vor Gericht erscheinen.«
    »Oh, Sie meinen den Fall, bei dem Sie die Karriere des Medical Examiners zerstören und dafür sorgen werden, dass ein kaltblütiger Mörder wieder frei herumläuft?« Ich zuckte zusammen, aber sie grinste und drohte mir mit dem Zeigefinger. »Sie tun das Richtige, und das wissen Sie auch – er hätte schon vor Jahren in den Ruhestand gehen sollen, und er hat den Fall völlig versaut. Fahren Sie nach Hause und schlafen Sie den Schlaf der Gerechten und Fähigen.«
    Erst als ich auf die leere Laderampe trat, fiel mir wieder ein, dass mein Auto vierhundert Meter weiter parkte, drüben an der Body Farm, wo ich es vor vierzehn Stunden abgestellt hatte. Entmutigt und plötzlich völlig erschöpft ließ ich die Schultern hängen.
    Das Einzige, was ich jetzt brauchte, war eine ordentliche Mütze voll Schlaf. Und das war auch das Einzige, was ich wahrscheinlich nicht bekommen würde.

5
    Mein Pick-up stand einsam und verlassen in der hinteren Ecke des Krankenhausparkplatzes. Bei Tag verschmolz der verwitterte hölzerne Sichtschutz der Body Farm – ein zwei Meter fünfzig hoher Bretterzaun, der die Leichen vor Touristen schützte und zimperliche Krankenhausmitarbeiter vor den Leichen – mit dem Wald. Jetzt, unter dem grellen Schein der Natriumdampflampen, schimmerte er in einem stechenden Gelborange.
    Ich schloss meinen Wagen auf, fuhr zurück in Richtung Krankenhaus und winkte in die Überwachungskamera, die hoch oben auf dem Dach montiert war. Ich bezweifelte, dass irgendjemand den Monitor aufmerksam im Auge hatte, aber für den Fall, dass doch, sollte die Campuspolizei wissen, dass ich ihre Rund-um-die-Uhr-Wache über meine unorthodoxe Großfamilie durchaus zu schätzen wusste.
    Um diese nächtliche Stunde, kurz vor elf, hatte ich den Highway praktisch für mich, als ich den Fluss überquerte und an der Ausfahrt Kingston Pike abfuhr. Kingston Pike – Knoxvilles wichtigste Ost-West-Durchgangsstraße – führte am Campus der University of Tennessee vorbei. Wenn ich an der Ampel am Ende der Abfahrt rechts abgebogen wäre, hätte ich die lebhafte, sechs Blöcke lange Straße namens »The Strip« überquert,

Weitere Kostenlose Bücher