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Anatomie

Anatomie

Titel: Anatomie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bass jefferson
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Beachtung verdient.«
    »Machen wir uns an die Arbeit.«
    Wir wandten uns wieder der Fahrtrage und der wartenden Leiche zu. Die Haarmatte war auf dem Schädel nach hinten gerutscht, sodass der Haaransatz oben über den Kopf verlief. Obwohl das Haar mit Adipocire verfilzt und von Schimmel verfärbt war, war an einzelnen Stellen noch zu erkennen, wie fein und strohblond es ursprünglich gewesen war. Die Ohren waren größtenteils verschwunden – sie hatten keine stützenden Knochen und waren nach und nach zusammengefallen und mit dem wächsernen Gewebe am Schädel verschmolzen. Das Gesicht war wie eine Maske: Die Adipocire hatte sich leicht von den darunter liegenden Knochen gelöst, was schaurig aussah, als hätte sich ein Skelett für einen skurrilen Maskenball der Toten als Mumie verkleidet. Obwohl die Lippen zu einem ewigen Schrei geöffnet waren, lagen die Zähne fest aufeinander. Die Augenhöhlen waren mit klumpigen Wachsscheiben gefüllt, die blind zu mir und Miranda aufsahen und in das grelle Neonlicht zu starren schienen, das die samtige Schwärze der Höhle abgelöst hatte.
    Die Trage hatte rundherum einen Rand aus Edelstahl sowie am Fußende einen Ablauf mit einem feinen Sieb. Da die Trage fest eingerastet war, hing der Ablauf direkt über dem Waschbecken – eine morbide, aber einfallsreiche Konstruktion, ersonnen von einem Menschen, der mehr Spritzer verwesten Gewebes von Wänden und Fußböden gewischt hatte als sonst jemand in der Welt: von mir. An einem Wandarm hing eine Handbrause, genauso eine wie in meiner Küche. Ich drehte das Wasser nur ganz leicht auf, um wenig Druck zu haben, stellte die Temperatur aber auf fast kochend. Die Beschaffenheit der Adipocire lag irgendwo zwischen Wachs und Seife. Heißes Wasser würde sie auflösen wie ein Stück Seife in einem Whirlpool.
    Sanft ließ ich das Wasser über das Gesicht laufen. Zuerst tat sich nichts – die Adipocire war kalt und fast steinhart –, doch allmählich wurde sie weicher und verflüssigte sich, dann tropfte sie schmierig durch den Ablauf in das Waschbecken. In der Höhle war mir so gut wie kein Geruch aufgefallen, und auch vor wenigen Augenblicken, als ich den Leichensack geöffnet hatte, war noch nichts zu riechen gewesen, doch als das heiße Wasser die Adipocire auflöste, stieg Verwesungsgestank auf, überlagert von dem ätzenden Gestank nach Ammoniak.
    In weniger als einer Minute war der Klumpen, der einst die Nase war, verschwunden und die Nasenöffnungen im Schädel freigelegt. Kaum viel länger brauchten Jochbögen und Jochbeine, um unter den geschmolzenen Wangen aufzutauchen. Als Nächstes wurden Maxilla und Mandibula sichtbar, Ober- und Unterkiefer. Als das Gewebe, das die Mandibula mit dem Schädel verband, sich auflöste, hielt ich den Knochen mit der linken Hand fest, bis er ganz frei war, dann reichte ich ihn Miranda, die ihn hinter sich auf eine mit flüssigkeitaufsaugenden großen Watte-Pads ausgelegte Arbeitsfläche legte. Sobald ich die Adipocire von den Knochen abgewaschen hatte, würden wir eine erste Untersuchung des ganzen Skeletts vornehmen, um die ethnische Zugehörigkeit zu bestimmen sowie Körpergröße und Geschlecht einzuschätzen. Dann würde Miranda die Knochen in einem Bottich heißen Wassers (versetzt mit einem Schuss Adolph’s Fleischzartmacher und ein wenig Biz-Waschmittel, um den Prozess anzustoßen) kochen. Danach würden wir sie schließlich vorsichtig mit einer Zahnbürste abbürsten, um sämtliches Gewebe zu entfernen.
    Nachdem ich die Gesichtsknochen freigelegt hatte, richtete ich den Wasserstrahl von oben seitlich auf den Schädel und löste so peu à peu die Haarmatte, als würde ich die Leiche der Frau auf absonderliche Weise mittels Wasser skalpieren. Als die Matte sich ganz gelöst hatte, spülte ich den Schädel weiter ab, um Kopfhautrückstände vollständig zu entfernen. Miranda hob das feuchte Haarknäuel hoch, drückte das meiste Wasser aus und legte es zum Trocknen auf die Watte-Pads.
    Wie seltsam, dachte ich, als ich den Oberkiefer genauer betrachtete. Die Frau hatte keine oberen seitlichen Schneidezähne; die beiden Zähne links und rechts der beiden Vorderzähne fehlten. Ich entdeckte weder einen besonderen Zwischenraum zwischen den mittleren Schneidezähnen und den Eckzähnen, noch Anzeichen dafür, dass der Kieferknochen irgendwelche Lücken geschlossen hatte. Sie hatte sie also nicht verloren; sie hatte nie welche gehabt. Anomale Nichtanlage von Zähnen, wie man das nannte, war

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