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Anatomie

Anatomie

Titel: Anatomie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bass jefferson
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ziemlich selten, doch es kam vor. Ich sagte nichts, denn ich wollte sehen, ob es Miranda auffallen würde. Wenn ja, würde sie es erwähnen.
    Nachdem der Unterkiefer entfernt war, wurde jetzt das obere Ende der Wirbelsäule sichtbar. Ich richtete den Wasserstrahl auf den ersten und zweiten Halswirbel, um sie ganz freizulegen. Der erste Halswirbel war kaum mehr als ein Knochenring – eine Art Distanzstück oder Unterlegscheibe; der zweite Halswirbel trug eigentlich die Last des menschlichen Kopfes, ein Gewicht von um die fünf Kilo. »Okay, entfernen wir den Schädel«, sagte ich. Miranda nickte und stellte sich ans Ende des Tisches.
    Sie packte den Schädel mit beiden Händen und kippte ihn leicht nach hinten, um die Gelenke zwischen den Wirbeln zu öffnen. Ich nahm mir vom Instrumententablett auf der Arbeitsfläche ein Skalpell, schob es behutsam in den Zwischenraum und bewegte es vor und zurück, um die restlichen Knorpelteile zu trennen. Die Lücke wurde größer, dann löste sich der Schädel und Miranda hatte ihn in Händen. Sie hielt ihn über das Waschbecken, damit er abtropfen konnte, dann trug sie ihn zur Arbeitsfläche und legte ihn ab. Ich drehte das Wasser ab und trat zu ihr.
    Wir studierten den Schädel eine Weile schweigend. »Sagen Sie mir, was Sie sehen«, forderte ich sie auf, wie ich es im Laufe der Jahre schon hundert Mal bei Studierenden getan hatte. Miranda griff nach dem Schädel und nahm die Herausforderung an.
    »Nun«, begann sie in vorsichtigem, förmlichem Tonfall, »der Schädel ist zierlich und sehr glatt. Die Augenhöhlen sind scharfkantig, und der Augenbrauenbogen ist nicht sehr ausgeprägt« – hier unterbrach sie sich, um den Schädel zu drehen –, »ebenso wie der Hinterhauptshöcker am unteren Rand des Schädels. Meiner bescheidenen Meinung nach eindeutig der Schädel einer Frau.«
    »Meiner Meinung nach auch.« Ich lächelte. »Und die Ethnie?«
    »Die Mundpartie ist orthognath – also ganz vertikal ausgebildet, daher scheint sie mir nicht negroid zu sein. Keine nennenswerte Abnutzung der Kauflächen, also hatte sie keinen Kopfbiss, und die Schneidezähne sind eindeutig nicht schaufelförmig. Das schließt wahrscheinlich auch Indianer oder Asiaten aus, obwohl wir, um sicherzugehen, die Schädelmaße in ForDisc eingeben sollten.« ForDisc – die Abkürzung für »Forensic Discriminant Functions« – war ein an der University of Tennessee entwickeltes Computerprogramm, das aus Skelettdaten mit großer Genauigkeit und Exaktheit Alter, Ethnie, Geschlecht und Körpergröße einer nicht identifizierten Person errechnete. Miranda unternahm eine letzte Inspektion von Gesicht und Mund. »Ja, lehrbuchmäßig kaukasoid, würde ich sagen.«
    »Würde ich auch sagen. Wie alt würden Sie sie schätzen?« Eine Fangfrage, doch Miranda zögerte keine Nanosekunde.
    »Ungefähr zwanzig Jahre, zehn Monate, fünf Tage, siebzehn Minuten und zwei Sekunden«, ratterte sie herunter. Ich starrte sie verdutzt an, und sie lachte. »Erwischt. Sie wissen, dass ich das nicht sagen kann, bevor wir nicht die Schlüsselbeine und die Schambeinfuge gesehen haben.« Sie musterte die Zickzacknähte des Schädels. »Die Schädelnähte sind noch nicht verknöchert, also ist sie eher jung. Die Weisheitszähne sind noch nicht raus, aber das heißt nicht viel – sie könnte zu den hochentwickelten Menschen gehören, deren Körper weiß, dass Weisheitszähne Vergeudung kostbaren Kalziums sind.« Sie neigte den Schädel nach hinten, um die Knochennähte der Gaumenplatte zu untersuchen. »Die Oberkiefernähte beginnen schon zu verknöchern, also ist sie erwachsen, nicht subadult. Aber ob sie achtzehn oder achtundzwanzig ist, kann ich erst sagen, wenn wir die Schlüsselbeine und das Becken mazeriert haben.« Sie unterbrach sich und fügte dann hinzu: »Nicht dass Sie danach gefragt haben, aber ich kann Ihnen auch sagen, dass der Schädel keine augenfälligen Anzeichen für Verletzungen aufweist, weder durch stumpfe Gewalt noch durch scharfe. Sie hat drei nicht gefüllte Löcher, was entweder auf niedrigen sozioökonomischen Status oder eingeschränkten Zugang zu zahnärztlicher Versorgung hinweist. Wahrscheinlich beides, wenn sie in Cooke County aufgewachsen ist. Und sie hat keine oberen seitlichen Schneidezähne, wahrscheinlich eher eine genetische Anomalie als Zahnverlust – der Oberkiefer zeigt keinerlei Knochenresorption, was der Fall wäre, wenn ein leeres Zahnfach sich allmählich verfüllt hätte.« Gütiger

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