Anatomie
Himmel, sie war wirklich gut! Miranda würde einmal eine ausgezeichnete forensische Anthropologin werden, falls sie nicht vorher von irgendeiner schicken medizinischen Hochschule abgeworben wurde.
»Großartiger Anfang«, sagte ich, »machen wir weiter.« Miranda legte den Schädel auf die Arbeitsfläche, und wir wandten uns wieder unserer kopflosen Leiche zu. Als ich mich daranmachte, den Rest der Wirbelsäule zu reinigen, beugten wir uns beide weit vor. Miranda sah es zuerst. »Da.« Sie zeigte mit ihrem behandschuhten Finger darauf. Vor dem dritten Halswirbel lag ein kleiner, gebogener Knochen, ungefähr so dick wie das Gabelbein einer Hühnerbrust. Sie packte ihn mit einer Fünfzehn-Zentimeter-Pinzette und hielt ihn ruhig, während ich ihn mit heißem Wasser abspülte.
»Nicht niesen«, sagte ich.
»Bringen Sie mich nicht zum Lachen«, erwiderte sie. »Oh, warten Sie, ich vergaß … das Risiko ist gering. Ihre Witze habe ich alle schon mal gehört.«
Ich ließ den Wasserstrahl vor- und zurückgleiten, um die freigelegte Region zu vergrößern, und allmählich tauchte der unverkennbar U-förmige Bogen des Zungenbeins aus der Schmiere auf. Als er vollkommen freilag, trug Miranda ihn wie einen Hauptgewinn zur Arbeitsfläche. Sie hielt ihn mit der Pinzette fest und stützte die Ellenbogen auf die Arbeitsplatte, während ich eine beleuchtete Lupe in Position schwenkte. Miranda hockte hochkonzentriert da und studierte den Knochen aus allen Winkeln. Schließlich richtete sie sich wortlos auf, damit auch ich ihn mir anschauen konnte.
Ich griff nach der Pinzette. Das Zungenbein war ein kleiner gebogener Knochen, zwei bis drei Zentimeter hoch und in etwa genauso breit. Unter der Lupe sah er fünf Mal so groß aus. Einst, vor langer Zeit, hatte dieses Zungenbein die Zunge der toten Frau und die anderen Muskeln, die sie beim Sprechen benutzt hatte, gestützt. Jetzt hoffte ich, dass der Knochen uns sagen konnte, wie sie gestorben war.
Mit dem mittleren Bogen oder »Körper« verbunden sind zwei dünnere Bögen, die sogenannten »Hörner«. Normalerweise entspricht die Höhe des Bogens ungefähr seiner Spannweite oder der Entfernung zwischen den Spitzen der Hörner. In diesem Fall jedoch waren die Hörner sehr viel näher zusammen. Man sah leicht, warum: Wo die Hörner mit dem mittleren Körper verbunden waren, sah es so aus, als wäre der Knorpel vom Knochen abgerissen, und der Körper selbst war an der Mittellinie gerissen. Ich hatte im Laufe meines Lebens zahlreiche beschädigte Zungenbeine gesehen, aber keines, das so verstümmelt war wie das, welches ich jetzt in Händen hielt. Diese junge Frau war mit unglaublich destruktiver Gewalt erwürgt worden. Die Geschichte ihres Todes war in ihre Knochen eingeschrieben.
Ich richtete mich auf und sah Miranda an. Sie zog die Augenbrauen hoch, und ich schenkte ihr ein grimmiges Lächeln. »Nun, jetzt wissen wir, dass sie nicht aus freien Stücken in die Höhle gekrochen und dort gestorben ist«, sagte ich. Wir hatten gerade einen entscheidenden Meilenstein erreicht. Vorher hatte ich nur den Verdacht gehabt, es mit einem Mord zu tun zu haben; jetzt wusste ich es. Und der kleine zerbrechliche Knochen, den ich in der Hand hielt, bewies nicht nur, dass ein Mord begangen worden war, er erzählte uns sogar, wie. Erregung packte mich, die ich stets gerne als gesunde Befriedigung über eine erfolgreiche wissenschaftliche Nachforschung betrachtete. In Wahrheit jedoch war sie mehr wie eine Droge. Andere Menschen waren süchtig nach Kokain, Zigaretten oder der Euphorie des Langstreckenläufers; ich war süchtig nach forensischen Entdeckungen.
»Davon brauchen wir ganz viele Fotos«, sagte ich. »Fünfunddreißig Millimeter; nehmen Sie die Vorsatzlinse und gehen Sie so nah ran wie möglich. Nehmen Sie es auch mit rüber ins technische Labor und legen Sie es dort unter das Rasterelektronenmikroskop. Abgesehen von den sichtbaren Frakturen wird das REM wahrscheinlich viele mikroskopisch kleine Abrissfrakturen zeigen, da wo der Knorpel vom Knochen abgerissen wurde. Sollte das hier je vor Gericht kommen, brauchen wir gute Beweisfotos.« Miranda nickte. »Okay, sehen wir uns den Anhänger an, und schauen wir dann, was die Schlüsselbeine uns verraten.«
Wir kehrten zu den Überresten auf der Trage zurück, und ich schob einen langen, dünnen Spatel unter den rechteckigen Klumpen nahe dem oberen Ende des Brustbeins. Er löste sich mit einem Schmatzen wie erkalteter ausgelassener Speck aus
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