Anatomie
geschoben worden, bevor man es mit Klebeband wieder zusammengeflickt hatte. Ich konnte nicht glauben, dass diese Verletzungen in Dr. Hamiltons Obduktionsbericht mit keinem Wort erwähnt wurden. Und ich konnte nicht glauben, dass ich es versäumt hatte, mir die Röntgenaufnahmen schon vor Wochen anzusehen. Ich betrachtete die vielen Knochensplitter, die auf der Aufnahme dichter und blasser waren als der Kallus, und versuchte zu bestimmen, ob irgendein Splitter so verschoben war, dass er die Lunge durchbohrt haben konnte. Doch es war hoffnungslos: Die Rippen versperrten der Kamera den Blick auf eventuell verstreute Splitter, es sei denn, diese hätten sich zufällig genau in den Rippenzwischenräumen befunden. Ich würde die Leiche noch einmal untersuchen müssen.
Ich schwang die schwere Kühlraumtür auf und schaltete das Licht ein. Ledbetters Überreste lagen auf einer fahrbaren Trage ganz hinten in der Ecke, eingezwängt zwischen zwei andere Leichen. Eine war eine riesige junge Weiße, die die Trage fast völlig ausfüllte und deren eingedelltes Fleisch an Hüften und Oberschenkeln über den erhöhten Rand des Tisches hing. Die andere Leiche war das genaue Gegenteil, ein alter, hagerer Schwarzer.
Ledbetters abgetrennter Kopf lag auf der rechten Seite, wo er von gefalteten Papierhandtüchern an Ort und Stelle gehalten wurde. Sieben Zentimeter Hals hingen noch an dem Kopf; darunter kam ein schmutziger, knapp fünfzig Zentimeter breiter Streifen Edelstahltrage und dann Becken und Beine.
Die rote Plastiktüte mit den Organen lag nicht auf der Trage.
Ich schob die beiden anderen Leichen zur Seite und sah genauer nach. Doch ich fand die Tüte nicht. Auch nicht unter der Trage. Oder irgendwo im selben Raum.
Verdammt. Ich lief aus dem Kühlraum und eilte den Flur hinunter, wobei ich unterwegs den Kopf in sämtliche Türen steckte. In einem Sektionssaal beugte sich ein junger Assistenzarzt unbestimmbaren Geschlechts tief über eine Leiche, die schwenkbare Lampe dicht darüber. Als ich hereinplatzte, fuhr der Pathologe abrupt hoch und stieß gegen die Lampe. »Mist«, stöhnte eine erstickte Stimme, immer noch unbestimmbaren Geschlechts.
»Tut mir leid«, rief ich und zog mich hastig zurück.
Ich ging den langen Flur zum Empfangstresen hinauf, einen Teil des Leichenschauhauses, in den ich mich selten wagte. Die Empfangsdame saß hinter einer schusssicheren Glasscheibe. Auf der anderen Seite war ein kleines Wartezimmer, das durch einen Flur im Keller des Krankenhauses betreten wurde – normalerweise von trauernden Familienmitgliedern, denen die schwere Aufgabe bevorstand, Sohn, Tochter, Bruder, Schwester, Ehegattin oder Ehegatten zu identifizieren. Das Leichenschauhaus lag mit Absicht so weit abgelegen wie nur möglich. Die Leute mussten sich ziemlich viel Mühe geben, es zu finden, und wenn sie es gefunden hatten, dann wurde es für sie noch viel schwerer. Außer den Trauernden konnten aber gelegentlich durchaus auch noch andere Besucher zur Vordertür hereinkommen – die, vor denen das kugelsichere Glas schützen sollte: der stocksaure Bruder eines Mannes, der von einem Polizisten erschossen worden war; der Geliebte in einer Dreiecksbeziehung, der dafür sorgen wollte, dass man bei der Obduktion des toten Ehemanns keine Kugel aus der Taschenpistole der Ehefrau fand. Soweit ich wusste, hatte das Glas nie den Test bestehen müssen, doch andererseits hielt womöglich allein die Tatsache, dass es da war, so manchen Durchgeknallten von irgendeinem Blödsinn ab.
Als ich mich dem Empfang von den inneren Tiefen des Leichenschauhauses her näherte, bemühte ich mich redlich, mich an den Namen der jungen Frau zu erinnern, die dort hockte. Sie war die Letzte in einer langen Reihe kurzlebiger Empfangsdamen. Kurzberockter auf jeden Fall. Tiffany? Kimberley? Tamara? Ich kam zu dem Schluss, dass ich ihr noch nicht begegnet war. Das bedeutete, dass die Letzte in weniger als einem Monat gekommen und wieder gegangen war.
»Guten Morgen, junge Dame, ich glaube, wir kennen uns noch nicht«, sagte ich und streckte ihr die rechte Hand hin, um mich vorzustellen. Ihr Blick fiel im selben Moment auf meinen roten Gummihandschuh wie meiner. »Sie wollen mir sicher jetzt nicht die Hand geben. Ich bin Dr. Brockton.«
Sie schüttelte den Kopf und seufzte. »Hi, Dr. B. ich bin Katie. Und wir sind uns schon begegnet. Zweimal. Sie sehen übrigens besser aus.«
Okay, vielleicht hatten wir uns doch schon kennen gelernt. Stimmte was mit meiner
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