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Anatomien

Anatomien

Titel: Anatomien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hugh Aldersey-Williams
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Sehnen freiliegen. Ich versuche zu zeichnen, was ich zu sehen glaube, und beginne mit der Kopfform, in die ich wichtige Details einfüge, nicht zuletzt die dramatische Kante, an der entlang die Haut weggeschnitten wurde. Mein Ziel ist die genaue Abbildung, und ich hoffe, dass sich die Teile irgendwann zu einem Ganzen fügen werden, aber das passiert nicht. Dieser Kopf mit seinem Gewirr von Sehnen, Muskeln und Röhren wirkt hoffnungslos entstellt. Mit den organischen Konturen kommen meine freihändigen Bleistiftstriche noch einigermaßen zurecht. Das telefonförmige Nasenloch gelingt mir. Aber das komplexe Auf und Ab der Oberflächen und die verschiedenen Texturen von Haut, Fleisch und Knochen machen mir zu schaffen.
    Die Studenten zeichnen besser und vor allem schneller als ich. Also beschließe ich, rascher, spontaner vorzugehen. Ich probiere esmit weicheren Stiften. Am Ende bin ich enttäuscht, wenn auch nicht überrascht. Ich sehe mir an, was die Studenten zuwege gebracht haben. Einige Zeichnungen spiegeln schlicht ein profundes Desinteresse an allen Fragen der menschlichen Anatomie wider, bei anderen ist ein gewisser Enthusiasmus zu spüren. Mich beeindrucken die Bandbreite ihrer Techniken und die Auswahl schwieriger, kaum zu meisternder Motive. Einer zeichnete das Schädelinnere und deutete mit ausdrucksvollen Schraffuren den Wechsel von Hell und Dunkel in den Höhlungen an. Ein anderer betonte jede Schleife und Windung einer Prosektion, besonders die Aorta, und erschuf so eine fast abstrakte Komposition. Auf diesen Gedanken wäre ich beim besten Willen nicht gekommen.
    Körperteile sind durch und durch komplexe Gebilde. Nirgendwo gibt es besonders leicht oder besonders schwer zu zeichnende Teile. Mir fällt alles schwer – nicht zuletzt, weil der Kontrast zwischen organischer Form und regelmäßiger Geometrie fehlt, der auf einem Stillleben durch die Obstschale oder eine auf dem Tisch liegende Pfeife zustande kommt.
    „Na, das ist doch erkennbar“, kommentiert Sarah meine Versuche diplomatisch, nachdem ich schon aufgegeben habe. Sie hat dieselben Köpfe gezeichnet (und gleichzeitig noch ihre Studenten betreut) und kennt sie so gut wie die Gesichter ihrer besten Freunde. Als Künstlerin hat sie sich mittlerweile eher der Botanik zugewandt. Ihre Tintenzeichnungen von Bäumen sind sichtlich auf das Knochenartige aus, auf Äste, die zu dunklen, fingernden Zweigen werden, und die Stämme erinnern an Knorpel und Knöchel. Die thematische Veränderung war für sie lehrreich. „Mich überrascht immer wieder, wie viele Fehler Zeichnungen von Körpern in bekannten Büchern enthalten“, sagt sie. „Bei Pflanzen kommt so was nicht vor. Weil wir bei ihnen nicht automatisch annehmen, dass wir sie bereits gut kennen.“
    Der Körper, das sind wir selbst, und wir kennen ihn lange nicht so gut, wie wir denken. Selbst der berühmte Vesalius machte Fehler, und darüber, ob Rembrandts sezierte Hand des kriminellen ’t Kintkorrekt ist, streiten sich die Geister. Sarah erzählt mir, dass Leonardo da Vinci die Herzklappen so präzise zeichnete, wie es erst im 20.

Jahrhundert wieder gelang, doch selbst bei ihm hatte der Herzbeutel ein kleines Loch, durch das die Lebenskraft in den Körper fließen sollte.
    Meine Beschreibung der Zeichenstunde im Sektionssaal klingt wohl dramatischer, als diese eigentlich war. Natürlich haben die rollbaren Eimer etwas Schockierendes, auf denen ganz einfach „Hände“ und „Arme“ steht und in denen sich tatsächlich ein Haufen Hände und Arme befinden, die so seziert sind, dass sich eine bestimmte anatomische Einzelheit an ihnen vorführen lässt. Ein paar strecken sich aus dem Wasser heraus, in dem sie konserviert werden. Schauerlich, kein Zweifel, aber man muss sich die Umgebung mitdenken, das helle Licht, die blitzsauberen Oberflächen, den Geruch von Reinigungsmitteln und auch die Stille, die automatisch entsteht, wenn wir mit toten Körpern arbeiten.
    Was waren das wohl für Leute? Sie stifteten ihre Körper „der Wissenschaft“ – wussten sie, dass man sie zeichnen würde? Hätte es ihnen etwas ausgemacht? Die jungen Künstler lernen ihr Handwerk so, wie sie wollen. Es sind keine Medizinstudenten, aber der Körper gehört auch nicht der Medizin allein. Auch die Künstler stehen in der ehrenwerten Tradition derer, die uns zwingen, uns mit dem eigenen Körper auseinanderzusetzen.
    Bei Autopsien denken wir gern an Fernsehserien und Thriller. Da gibt es den rauen, aufgekratzten,

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