Anatomien
waren die Gliedmaßen usw. Das alles sah man dem tatsächlichen Gebäude allerdings kaum an. Immerhin besitzen die meisten Gebäude eine Fassade, die den Besucher begrüßt, und einen Ausgang für den Abfall irgendwo auf der Rückseite, auch ohne dass jemand eine überkandidelte anthropomorphe Architekturtheorie entwickelt hätte. Noch genauere Darstellungen idealer Körper gibt es in der Literatur. In Edmund Spensers The Faerie Queene erreichen die Ritter Arthur und Guyon eine prächtige Burg, die wie ein Körper angelegt ist. Über die Rippen, „zehn Stufen aus Alabaster“, erreicht man die oberen Stockwerke. Sobald sie beim Kopf ankommen, sehen sie, dass der Mund ein ziemlich belebtesTor ist: „Im Wachturm saß ein Wächter“ (die Zunge), und zu beiden Seiten „noch zweimal sechzehn Wärter“ (die Zähne). Die Augen sind „zwei gute Strahler“, während drei Räume für die verschiedenen Gehirnfunktionen zuständig sind. Der erste ist voller summender Fliegen, die die menschliche Fantasie symbolisieren. Der zweite enthält den Intellekt und das Urteilsvermögen, während im dritten „ein uralter Mann sitzt, der sich noch an alles erinnert“.
Der Dichter-Priester John Donne, der sich intensiv mit dem Körper auseinandergesetzt hat, stellte ihn sich nicht als Palast und auch nicht als Burg vor. Er verglich ihn in einer Predigt mit „Speisekammern, Keller und Gewölbe“ voller „Krüge und Gefäße“, in denen sich Urin, Blut und andere Flüssigkeiten befanden, die Treib- und Abfallstoffe des Körpers.
Gustave Flauberts Freund Maxime Du Camp beschrieb die Stadt Paris anatomisch als System von Organen und Organfunktionen, während der sozialistische Philosoph Henri de Saint-Simon davonträumte, im Zentrum eines neu gestalteten, utopischen Paris einen riesigen Tempel in Frauenform zu erbauen. Die monumentale Erlöserin sollte in der einen Hand eine Fackel tragen, um ihr mildes Antlitz zu erhellen, in der anderen einen Globus, in dem ein ganzes Theater Platz finden sollte. Am Fuße ihres wallenden Gewandes sollte ein großer, offener Platz liegen, auf dem sich die Bevölkerung in idyllischer Atmosphäre zu moralischen Vergnügungen aller Art treffen sollte. Die Idee ist nicht neu. Die Mythenforscherin Marina Warner erklärt, bei Skara Brae auf den Orkney-Inseln habe man Reste eines Steinzeittempels gefunden, dessen Form „wie Fingerkraut und damit letztlich wie ein weiblicher Körper aussah. Man betrat ihn durch den Geburtskanal.“
Dem Wunsch, körperförmige Gebäude zu erbauen, liegt sicher die von Freud beschriebene Begierde nach der Rückkehr in den Mutterleib zugrunde. Ganz bewusst zog man den Körper als Modell heran, wenn ein Ideal ausgedrückt werden sollte. Der Mensch ist nach Gottes Ebenbild erschaffen und strebt danach, die Dinge nach seinem eigenen Ebenbild zu gestalten.
Dass die Kunst eine Vorstellung vom idealen Menschen besitzt, ist selbstverständlich. Aber lässt sie sich auch in der von den Griechen entwickelten neuen Sprache der Mathematik ausdrücken? Plato hielt den Sehsinn für den edelsten der fünf Sinne. Für ihn war die Schönheit etwas Sichtbares – eine äußerst weitreichende Bestimmung, die noch heute zum Tragen kommt, wenn etwa ein Fernsehmoderator seinen Job verliert, weil er – wie wir alle – sichtlich altert. Das ist nicht fair, aber verständlich: Schönheit hat mit dem Äußeren zu tun, wir möchten sie sehen.
In der zweiten Hälfte des 5.
Jahrhunderts v.
Chr. entwickelte Polyklet, der vor allem Athletenstandbilder schuf, in seiner Schrift Kanon quantitative Maßstäbe für die menschliche Schönheit, nach denen er die Proportionen des Doryphoros festlegte, die Bronzestatue eines nackten jungen Speerträgers. Das Original des Standbilds hat sich nicht erhalten, auf der Basis von Fragmenten und römischen Marmorkopien konnten aber glaubwürdige Abgüsse hergestelltwerden. Besonders sorgfältig arbeitete der Künstler die eindrucksvolle Brustmuskulatur und die schrägen Bauchmuskeln oberhalb der Hüften heraus. Letztere erscheinen dem modernen Betrachter übertrieben, doch sie gehörten zum klassischen Schönheitsideal. Der Speerträger ist wohl das am häufigsten kopierte Standbild der Antike. Sein Oberkörper wurde zum Modell für die eng anliegenden bronzenen Brustpanzer griechischer und römischer Soldaten. Der „Muskelpanzer“ (oft mit dem französischen Begriff cuirasse esthétique bezeichnet) zeigte nicht nur Kennzeichen des Kriegers wie
Weitere Kostenlose Bücher