Anatomien
Geheimnisse des Körpers lüftete, hätte solch abstrakten metaphysischen Vorstellungen den Boden entziehen können. Aber auch Philosophen wie Spinoza und Leibniz fanden Gefallen daran – ebenso wie zeitgenössische New-Age-Denker oder die Gaia-Theoretiker, die die Erde mit einem Lebewesen vergleichen.
Dass wir den menschlichen Körper in Geografie und Kosmologie suchen, ist kein Wunder. Er ist nun einmal die Umgebung, die Landschaft, in der wir leben und handeln. Er ist unser Selbst und unser Lebensraum. „Ich habe einen Körper und ich bin ein Körper“, sagt der Soziologe Bryan Turner. Pointiert machte der stoische Philosoph Epiktet seinen Studenten klar, was der Mensch sei, nämlich „eine Seele mit einem Toten auf dem Rücken“. In dieser dualistischen Betrachtungsweise ist die Geografie als Metapher für den Körper besonders attraktiv – und umgekehrt gilt das Gleiche.
Die Vorstellung vom Körper als Territorium wird uns noch häufiger begegnen, und zwar besonders in Geschichten von Anatomen, die einen vor ihnen liegenden Körper wie einen unbekannten Ozean erkunden, neu entdeckte Länder beanspruchen und nach sich selbst benennen. Die Tuba fallopii (die Eileiter) und die Eustachi-Röhre (die Ohrtrompete) heißen so, weil die italienischen Ärzte Gabriele Falloppio und Bartolomeo Eustachi sie im gleichen Jahrhundert entdeckten, in dem auch die Magellan-Straße und die Drake-Passage ihre Namen erhielten. Eine große Rolle spielt der Körper als Territorium auch in der „topischen Medizin“ ( topos ist das griechische Wort für Ort), die versucht, Probleme oder Krankheiten auf bestimmte Körperregionen einzugrenzen, und damit unsere Hoffnung ausdrückt, ein Arzt könnte ein Problem so einfach finden wie einen Ort auf der Karte. Die anatomische Ausstellung im Royal College of Surgeons, dem Sitz der altehrwürdigen englischen Chirurgengesellschaft, ist heute nicht mehr nach Funktionsgruppen, sondern „regional“ geordnet. Der Kuratorin Carina Phillips kam es darauf an, der veränderten medizinischen Ausbildung Rechnung zu tragen. Viele illustrierte Anatomiebücher heißen auch heute noch „Atlas“ und erinnern damit an die „Mikrokosmografien“ des 17.
Jahrhunderts mit ihren Anklängen an die „Kosmografien“ des Sonnensystems und der Sternbilder. Diese Begriffe verweisen auf die alte Vorstellung vom Körper als verkleinertem Abbild des Universums.
Warum ist die geografische Metapher so plausibel? Im Körper gibt es ganz offensichtlich Routen – Nerven, Venen und Arterien, die zu bestimmten Organen hin oder von ihnen weg führen. Wie die von den Griechen verehrten, Leben spendenden Flüsse transportieren sie wertvolle Nährstoffe. Wenn wir ihren Verlauf durch den Körper verfolgen, stoßen wir hier und da auf besonders aufregende Orte und dann wieder auf Regionen, in denen nicht viel los ist. Nachdem Descartes die Trennung von Körper und Seele philosophisch festgeschrieben und die moderne Medizin wichtige Fortschritte gemacht hatte (denken Sie an William Harveys Entdeckung des Blutkreislaufs), konnten wir den Körper als eine Art Maschinesehen. Doch davor war er eine ganze Welt, mit bekannten und noch unbekannten Teilen, mit einer vertrauten Küste und vielen weißen Flecken im Binnenland.
Auch der Architektur diente der menschliche Körper immer wieder als Vorbild. Ganze Städte sowie einzelne Gebäude wurden ihm nachempfunden. Im 15.
Jahrhundert entwarf der Architekt Antonio di Pietro Averlino, genannt Filarete, zu Ehren seines Mäzens Francesco Sforza, des Herzogs von Mailand, die imaginäre Stadt Sforzinda. Weitere Renaissance-Idealstädte folgten. Die Stadtmauer von Sforzinda war achteckig und gezackt, damit man die Stadt gut verteidigen konnte, aber das Leben innerhalb dieser Schutzhaut sollte so reibungslos funktionieren wie der menschliche Organismus. Zamość in Südost-Polen wurde auf der Basis einer solchen Renaissance-Fantasie tatsächlich erbaut: Das Stadtzentrum ist der Marktplatz, der den Magen darstellt; wie ein Herz liegt die Katharinenkirche etwas abseits der Mitte; der Zamoyski-Palast ist der Kopf. Es gibt sogar einen Wassermarkt, ungefähr da, wo man sich die Nieren vorzustellen hat.
Im Jahrhundert darauf entwickelte der Architekt und berühmte Künstlerbiograf Giorgio Vasari das Konzept eines idealen Palastes ebenfalls auf der Grundlage der menschlichen Gestalt. Die Fassade stellte er sich als Gesicht vor, der Innenhof entsprach dem Körper, die Treppenhäuser
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