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Anatomien

Anatomien

Titel: Anatomien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hugh Aldersey-Williams
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Brustmuskeln und Rippen, sondern auch den Nabel und sogar die Brustwarzen. Das Bild lebt in Comicfiguren wie Superman und Batman mit ihren eng anliegenden Gewändern fort, unter denen sich jeder Muskel abzeichnet – wenn auch normalerweise ohne die homoerotischen Extras.
    Wie der Original-Doryphoros ist auch der Kanon nicht überliefert, sodass wir die Zahlenverhältnisse, die Polyklet seinem System idealer Proportionen zugrunde legte, nicht mehr erschließen können. Erstaunlicherweise ist das auf Basis der Statue allein bisher nicht gelungen. Der menschliche Körper ist einfach zu vieldimensional. An zu vielen Punkten könnte man ansetzen und zu messen beginnen, sodass man mit Vermutungen nicht weiterkommt.
    Dem Proportionsschema, das vierhundert Jahre nach Polyklet der römische Architekt Vitruv aufstellte, erging es besser. Die zehn Bände seiner Abhandlung De architectura – die einzige überlieferte antike Architekturlehre – waren bis in die Renaissance ein Standardwerk. Dann veröffentlichten Leon Battista Alberti und Andrea Palladio ihre eigenen, vielbändigen Handbücher. Vitruvs Ausführungen über den menschlichen Körper stehen im dritten Band seines Werks, der sich mit den Gestaltungsprinzipien für Tempel beschäftigt:

    Es kann kein Tempel ohne Symmetrie und Proportion in seiner Anlage gerechtfertigt werden, wenn er nicht, einem Menschen ähnlich, ein genau durchgeführtes Gliederungsgesetz in sich trägt. Denn die Natur hat den Körper des Menschen so gebildet, dass das Angesicht von dem Kinn bis zu dem oberen Ende der Stirn und den untersten Haarwurzeln den zehnten Teil (der ganzen Körperlänge) ausmacht; das gleiche ebensoviel die Fläche der Hand vom Handgelenk bis zum Ende des Mittelfingers, der Kopf vom Kinn bis zum höchsten Punkte des Scheitels den achten Teil, ebensoviel vom unteren Ende des Nackens aus, vom oberen Ende der Brust bis zu den untersten Haarwurzeln den sechsten, bis zum höchsten Scheitelpunkte um den vierten Teil der Gesichtslänge mehr. Von der Höhe des Gesichtes selbst aber ist vom Kinnende bis zum unteren Ende der Nase ein Drittteil, ebensoviel beträgt die Nase von ihrem unteren Ende bis zu dem in der Mitte der Augenbrauen; von diesem Endpunkte bis zu den untersten Haarwurzeln, wo die Stirne gebildet wird, ist gleichfalls ein Drittteil. Der Fuß aber misst den sechsten Teil der Körperhöhe, der Vorderarm den vierten, die Brust gleichfalls den vierten Teil. Auch die übrigens Glieder haben ihre Maßverhältnisse, deren sich auch die alten und angesehensten Maler und Bildhauer bedient und dadurch großen und endlosen Ruhm erlangt haben.
    Mit Vitruvs Schema ließen sich alle wichtigen Bestandteile der menschlichen Gestalt durch einige einfache Zahlenverhältnisse beschreiben. Für eine Handfläche brauchte man vier Finger, sechs Handflächen ergaben eine Elle. Ein Mensch war vier Ellen oder sechs Fuß groß. Mit komplizierten Argumenten versuchte Vitruv sogar zu beweisen, dass die „Zahlen ihren Ursprung im menschlichen Körper haben“. Heute bewerten wir Vitruvs Tricks eher skeptisch. Sein elegantes System geht auf, weil er sich auf Merkmale konzentrierte, die seinen Zahlenverhältnissen entsprachen, und nicht immer auf die offensichtlichen. Er spricht über die Unterseite der Nasenlöcher, nicht die Nasenspitze, und über die Augenbrauen, nicht die Augen.
    Vitruv zufolge befindet sich der Nabel „im natürlichen Mittelpunkt des menschlichen Körpers“, und ein Kreis um dieses Zentrum berühre die Finger und die Zehen eines Menschen, der Armeund Beine ausstrecke. Die Spannweite der ausgestreckten Arme betrage vier Ellen, ebenso wie die Größe, sodass sich um den Körper auch ein Quadrat zeichnen lasse. Beide Formen, Kreis und Quadrat, waren aufgrund ihrer geometrischen Reinheit für den Tempelbau symbolisch wichtig, und ihre Göttlichkeit wurde mit dem Verweis auf die menschliche Gestalt plausibilisiert.
    Vitruvs ausführlicher Text war nicht illustriert. Zahlreiche Künstler des 16.

Jahrhunderts fertigten Illustrationen an, aber mit einigen Elementen hatten sie ihre Schwierigkeiten – Geometrie und Mensch wollten nicht so recht zusammenpassen. Erst Leonardo da Vinci gelang es, alle Vorgaben des römischen Architekten in einer einzigen, harmonischen Zeichnung zu vereinen.
    Leonardo war wohl der erste Künstler, der einen menschlichen Körper aufschnitt, um ihn zu zeichnen. Er prahlte damit, mehr als zehn Körper seziert zu haben, um mit der fortschreitenden

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