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Anatomien

Anatomien

Titel: Anatomien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hugh Aldersey-Williams
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guten Grund, warum sie zwangsläufig in einfachen arithmetischen Verhältnissen zueinander stehen müssten. Die Tatsache, dass man sie trotzdem so kombinierte, dass also zwölf Inches genau einen Fuß ergeben, bezeugt, dass wir bis heute an Vitruvs mathematisierendem Idealismus festhalten.
    Alle diese Maßeinheiten sind übrigens linear. Bei Flächen, Massen und Volumen spielt der Körper so gut wie keine Rolle. Einige Einheiten beruhen auch nicht auf dem Körper, sondern auf den Fähigkeiten des Menschen. Ein Morgen ist zum Beispiel die Fläche, die ein Mann mit seinem Ochsen an einem Tag pflügen konnte. Das Gewicht, das jemand stemmen, oder die Menge Wasser (oder Bier), die jemand trinken kann, variieren jedoch zu stark, als dass sie einen guten Bezugspunkt abgeben würden. Selbst vitruvianische Sechs-Fuß-Menschen können stämmig oder schlank sein. Gleichwohl gibt es einige andere sogenannte anthropische Maße, unter anderem sogar für Zeitspannen. In der hinduistischen Tradition bezeichnet nimesha die Länge eines Wimpernschlages und paramaanus die Zeitspanne zwischen zwei Wimpernschlägen.
    Wie wichtig die richtige Größe ist, zeigen Geschichten, in denen die Verhältnisse auf den Kopf gestellt sind. Alice im Wunderland und Gullivers Reisen sind die beiden beliebtesten Erzählungen, in denen sich die relative Größe der Protagonisten radikal verändert. Alice und Gulliver machen ganz unterschiedliche Erfahrungen.Alice trinkt zuerst aus der mit „TRINK MICH“ beschrifteten Flasche und schrumpft, und dann isst sie den Kuchen, der sie wieder wachsen lässt. Sie malt sich die schrecklichen Konsequenzen aus, die einträten, wenn sich eine Entwicklung bis ins Extrem fortsetzte – vielleicht „verlöscht man ganz, wie eine Kerze“. In Alice’ Welt sind Maße und sogar Zahlen nicht mehr verlässlich. Selbst ihre Multiplikationstafeln stimmen hier nicht mehr.
    Gulliver bleibt dagegen gleich groß. Die höchsten Bäume in Liliput sind „sieben Fuß hoch“, während ein Bewohner von Brobdingnag ihn „über sechzig Fuß in die Höhe“ schleudert. Auch die Mathematik stimmt: Zum Beispiel errechnen die Liliputaner, dass Gulliver 1728-mal so viel Nahrung braucht wie sie selbst, da er in allen drei Dimensionen zwölfmal so groß ist wie sie und zwölf hoch drei eben 1728 ergibt.
    Alice’ Größe verändert sich beim Fall durch den Kaninchenbau, während Gulliver unterschiedlich große Länder besucht. Feste Gesetze, die Größe betreffend, gibt es in beiden Geschichten. „Du hast kein Recht, hier zu wachsen“, tadelt das Murmeltier Alice, als diese in Vorbereitung ihrer Heimkehr wieder ihre ursprüngliche Größe annimmt. „Zweiundvierzigstes Gesetz. Alle Personen, die mehr als eine Meile hoch sind, haben den Gerichtshof zu verlassen “, brüllt der König. Auch der Kaiser von Liliput stellt Regeln auf. Für Gulliver gilt: „Erstens, der Berg von Mann darf unser Reich nicht verlassen, es sei denn, wir haben ihm dies mit Brief und Siegel gestattet.“ Von der Größe hängt vieles ab, und jede Abweichung wird bestraft.
    Heute haben wir den Gedanken an einen Idealmenschen weitgehend aufgegeben. Der Maler und Karikaturist William Hogarth erklärte im 18.

Jahrhundert, dass geometrische Gesichter ein Unding seien, und schwelgte in seinen satirischen Zeichnungen in Unregelmäßigkeiten. Im Abschnitt „Proportion ist nicht die Ursache der Schönheit beim Menschengeschlecht“ bestritt Edmund Burke in seiner berühmten Schrift Philosophische Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen 1757 das ganzeKonzept und wies darauf hin, dass „ideale“ Proportionen sich sowohl bei Menschen nachweisen ließen, die als schön, wie bei solchen, die als hässlich gälten. „Man mag beliebige Proportionen für alle Teile des menschlichen Körpers festsetzen – und ich garantiere dafür, daß ein Maler sich an alle halten kann wie an die Offenbarung selbst und trotzdem, wenn er will, eine äußerst häßliche Gestalt zustande bringt.“ Vitruvs Mann kommt besonders schlecht weg. Der Mensch habe doch nichts mit einem Quadrat zu tun, allenfalls mit einem Kreuz. „Es erscheint mir aber völlig klar, daß die menschliche Gestalt dem Architekten niemals irgendeine seiner Ideen liefert.“
    Dem frühen belgischen Statistiker und Sozialwissenschaftler Adolphe Quetelet haben wir den „Durchschnittsmenschen“ zu verdanken, den die Statistik mit ihren Konzepten von Durchschnitt und Standardabweichung

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