Anatomien
Verwesung Schritt zu halten, und mit jedem Körper ein besseres Verständnis seiner Eigenheiten erhalten zu haben. In seinen Notizbüchern schildert er spannungsvoll, wie er „die Nacht mit diesen Leichen verbrachte. Gevierteilt und geschunden boten sie einen schrecklichen Anblick.“
Leonardo hatte die geniale Idee, von der wahren menschlichen Form auszugehen und die Geometrie um sie herum anzulegen. Er positionierte also den Mann im Quadrat einfach über dem Mann im Kreis mit den ausgestreckten Armen und erweckte durch diese schöne Lösung sogar den Eindruck von Bewegung. Im Ergebnis berühren sowohl der Kreis als auch das Quadrat den Boden. Das Zentrum der Gestalt im Kreis liegt, wie von Vitruv vorgegeben, beim Nabel, aber da der Mittelpunkt des Quadrats unterhalb des Kreismittelpunktes liegt, befindet er sich dort bezeichnenderweise auf dem männlichen Geschlechtsorgan. Der Mensch erscheint also als Erzeugter und Erzeuger, als Schöpfer und Geschöpf zugleich. Das leuchtet ein. Aber stimmt es auch? Warum sollte sich der menschliche Körper durch einen geometrischen Schematismus erfassen lassen?
Gegen Ende seiner Karriere hielt es der moderne Schweizer Architekt Le Corbusier für nötig, den vitruvianischen Menschen für das 20.
Jahrhundert neu zu gestalten. Wäre Le Corbusier nicht Architekt geworden, hätte wohl auch ein Boxer aus ihm werden können. Jedenfalls zeichnete er zahllose Boxer und verglich sein Berufsleben mit dem eines Boxers. Kein Wunder also, dass sein neuer Idealmensch, den er Le Modulor nannte, eine riesige geballte Faust in den Himmel reckt. Im ersten Entwurf war Le Modulor so groß wie der Durchschnittsfranzose, nämlich 1,75 m. Aber der Architekt mochte das metrische System nicht und entwickelte eine neue, an der Erde orientierte Version. Später verkündete er, sein neuer Mensch sei ein sechs Fuß großer Engländer, „weil die gut aussehenden Männer in englischen Detektivromanen, zum Beispiel die Polizisten, immer sechs Fuß groß sind!“ Bis zum oberen Ende der Faust misst Le Modulor 226 cm, und sein Nabel befindet sich genau in der Mitte, auf 113 cm Höhe. Die Strecke vom Boden bis zum Nabel und die vom Nabel bis zum oberen Ende des Kopfes stehen im Verhältnis des Goldenen Schnittes zueinander (0,618
:
1 = 1
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1,618). Das Gleiche gilt für die Strecke vom Kopfende bis zur Faust. Und die Figur ist tatsächlich sechs Fuß groß, also 182,8 cm. Dieses in den 1940er Jahren entwickelte Proportionsschema liegt auch der Unité d’Habitation zugrunde, Le Corbusiers einflussreichem Wohnblock in Marseille. Die Modulor-Logik ergibt mit den Worten eines Architekturkritikers ein Gebäude, das „in jeder Hinsicht so ambitioniert, klug und schrecklich ist wie der Parthenon“, auch wenn das nicht unbedingt mit der Magie von Zahlenverhältnissen oder deren unauflöslicher Verbindung mit dem menschlichen Körper zu tun hat. Der Modulor-Mensch ragt als skulpturales Relief aus dem Beton des Gebäudes, doch den meisten Bewohnern wird wohl entgehen, dass ein englischer Polizist sie beobachtet.
Vieles an Le Modulor mag willkürlich erscheinen und dadurch die Vision eines idealen Menschen sogar unterminieren, aber eines wird deutlich: Wie bei Vitruvs Mensch ist das Ideal nicht nur eineFrage der harmonischen Proportionen, sondern auch der richtigen Größe.
Frühe Maßeinheiten bezogen sich direkt auf den menschlichen Körper. Viele sind heute noch gebräuchlich. Einer Definition zufolge war ein „inch“ die Länge des (königlichen) Daumens zwischen Spitze und erstem Glied. Ein „foot“ oder „Fuß“ ist ungefähr so lang wie ein menschlicher Fuß. Die gebräuchlichste der verschiedenen Definitionen lautet, ein Fuß entspreche zwölf Inches. Eine Elle istvier Handflächen breit und so lang wie die Strecke vom Ellenbogen bis zur Mittelfingerspitze, was normalerweise als 18 Inches, manchmal jedoch auch als 21 oder noch mehr definiert wird. Die Elle erhielt ihren Namen vom lateinischen Wort für Ellenbogen, ulna . Sie wurde zur Maßeinheit für Textilien und auf 45 Inches festgelegt. Der Name geht vermutlich auf die Tatsache zurück, dass man den Stoff mit der einen Hand hielt, das andere Ende an die gegenüberliegende Schulter führte und den Arm dann ausstreckte. Ich bin etwas kleiner als Le Corbusiers englischer Held, und die eben beschriebene Strecke ist bei mir etwa 45 Inches lang.
Jede dieser Maßeinheiten bezieht sich auf einen anderen Körperteil. Es gibt keinen
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