Anatomien
Trommelfell über die drei winzigen Mittelohrknochen in die Innenohrschnecke weitergeleitet werden, vibrieren sie. Das löst Nervensignale an das Gehirn aus, die wir als Klänge auffassen. Wunderbar ist, wie diese vielen Tausend Härchen gleichzeitig ihren Dienst tun, sodassich in der Haydn-Symphonie, die ich beim Schreiben höre, die verschiedenen Instrumente nach Tonhöhe und Klangfarbe unterscheiden kann. Wenn wir mit zunehmendem Alter höhere Töne immer schlechter hören, liegt das daran, dass mehr und mehr Härchen absterben. Dass ich relativ unmusikalisch bin, hat dagegen keine physiologischen Gründe, sondern liegt daran, dass ein bestimmter Teil meines Gehirns wenig ausgebildet ist, was sich sicher durch hinreichend Übung beheben ließe.
Manche glauben, dass die Ohrmuschel mehr als nur ein Geräuschesammler ist. In den 1950ern fiel dem französischen Arzt und Akupunkturspezialisten Paul Nogier auf, dass es einem menschlichen Fötus ähnelt (das Ohrläppchen entspricht dem Kopf und die auch Innenwulst genannte Antihelix dem Rückgrat des Fötus). Die auf Basis dieser Ähnlichkeit entwickelte Alternative Medizin nannte er Aurikulotherapie. Das Ohr wird als verkleinerte Version des Patienten betrachtet, und der Therapeut stimuliert bestimmte Bereiche, um die entsprechenden Körperteile zu behandeln. Diese Vorstellung ähnelt in gewisser Weise der antiken Annahme, das Ohr sei ein Kanal, der durch Mund und Rachen ins Innere des Körpers führe, oder der alten Ätzmedizin, bei der zum Beispiel eine Ischiasbehandlung darin bestand, dass Teile des Ohrs mit einem heißen Eisen weggebrannt wurden. Nogier und ein Kollege deuteten Boschs durchbohrtes Ohr als Akupunkturbild und setzten ihre Nadeln an dort hervorgehobenen Stellen an, um den Effekt auf ihre Patienten zu untersuchen. Sie fanden angeblich heraus, dass die Stimulation am Eintrittspunkt die Libido unterdrückte, während die Stimulation am Austrittspunkt das sexuelle Verlangen steigerte.
Weil man die Haare zur Zeit von Antoon van Dyck lang trug, malte dieser später als Sir Anthony zum Ritter geschlagene Künstler im zweiten Viertel des 17.
Jahrhunderts zwar viele Porträts, aber nur wenige Ohren. Die Ausnahme bildet ein Frühwerk des Neunzehnjährigen, das zeigt, wie Christus nach dem Verrat des Judas im Garten Gethsemane festgenommen wird. Das Gemälde ist voller chaotischer Gewalt. Im Vordergrund hat der Apostel Petrus gerade Malchus, den Diener des Hohepriesters, zu Boden geworfen. Er will ihm das Ohr abschneiden, um die Festnahme zu verhindern. Das fragliche Ohr glänzt, als würde es seine Amputation erwarten. Van Dycks Petrus hält ein kurzes Messer in der Hand, nicht das in der Bibel erwähnte Schwert, sodass die Szene eher wie ein nächtlicher Überfall aussieht. Jesus weist Petrus an, sich zu mäßigen (mit den bekannten Worten: „Wer zum Schwert greift, wird durch das Schwert umkommen“). Im Evangelium des Lukas, der Arzt war, heilt Jesus das Ohr durch Handauflegen – dies ist das einzige Mal in der gesamten Bibel, dass Jesus eine frische Wunde heilt. Diese Szene gehörte in der frühen Neuzeit zum künstlerischen Standardrepertoire. Viele Maler zeigten, wie Petrus die blutige Tat begeht; einige stellten den Moment danach dar und ließen Petrus triumphierend das Ohr hochhalten, oder sie konzentrierten sich auf die Heilungsgeste. Wolfgang Pirsig hat 54 solcher Gemälde identifiziert, wobei die Künstler je nach Bildkomposition mal das linke, mal das rechte Ohr opfern, obwohl zwei Evangelien explizit feststellen, Petrus habe Malchus’ rechtes Ohr abgeschnitten. Auf drei Gemälden implantiert ein unaufmerksamer Christus ein falsches Ohr auf Malchus’ Wunde.
Die biblischen Beschreibungen lassen vermuten, dass Malchus an der Verletzung starb, doch war das Ohrenabhauen noch lange Zeit eine übliche Form der Strafe. Der „Krieg um Jenkins’ Ohr“, eine heute fast vergessene Episode der britischen Geschichte, begann mit einem solchen Ereignis. 1731 brachte die spanische Küstenwache in der Nähe von Havanna das von Jamaica heimkehrende britische Handelsschiff Rebecca auf. Die Spanier schnitten dem Kapitän der Rebecca, Robert Jenkins, ein Ohr ab. Sie gaben es ihm mit der Warnung zurück, dass es jedem weiteren Eindringling genauso ergehen würde. Jenkins berichtete nach seiner Rückkehr in Hampton Court von dem Vorfall, der zunächst folgenlos blieb. Das Ohr wurde erst sieben Jahre später zum Zankapfel, als ein Streit mit Spanien über den
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