Anatomien
Sklavenhandel in Amerika ausbrach. Jenkins sagte imMärz vor dem Unterhaus aus und präsentierte offenbar sein in einem Einmachglas konserviertes Ohr. Er hatte die erste Einladung des Parlaments ausgeschlagen und fühlte sich in einem Haus voller Kriegstreiber vermutlich auch eher unwohl. Es gibt kein Protokoll der Parlamentssitzung, und es ist durchaus möglich, dass Jenkins nicht sein eigenes Ohr vorzeigte, sondern ein Stück Schweinefleisch, das ihm ein Lobbyist auf dem Weg in die Hand gedrückt hat. Nichtsdestotrotz wurde das Ohr zum Symbol für die papsthörige Gewalt der Spanier. Im Jahr darauf erklärte Großbritannien Spanien den Krieg.
Vieles an der Geschichte ist wohl der Fantasie des konservativen Historikers Thomas Carlyle zuzuschreiben, der den Begriff „War of Jenkins’ Ear“ in seiner 1858 veröffentlichten Monumentalbiografie des preußischen Königs Friedrich II. prägte. Er berichtet, Jenkins habe „sein in Baumwolle verpacktes Ohr herausgeholt und alle (außer den Offiziellen) gerieten bei seinem Anblick in Wut“. Die „Offiziellen“ sollen in dieser Angelegenheit auch das letzte Wort haben. Das Thema gehört auf der Webseite des britischen Unterhauses zu den „FAQs“, und der Leser erhält die kühle Auskunft, es sei „höchst unwahrscheinlich“, dass Jenkins sein Ohr sieben Jahre lang aufbewahrt habe.
Barbarische Ohrabschneidungen gibt es auch heute noch. Italienische Gangster schnitten 1973 dem von ihnen gekidnappten John Paul Getty III. das rechte Ohr ab. Sie verlangten eine hohe Lösegeldsumme, doch die Familie wollte nicht zahlen. „Wenn ich jetzt auch nur einen Pfennig bezahle, werden mir morgen meine 14 Enkel entführt“, sagte Gettys für seinen Geiz berüchtigter Großvater. Nach drei Monaten schnitten die Gangster das Ohr ab, schickten es mit einer Haarsträhne an eine Zeitung und senkten ihre Forderung. Der Großvater zahlte dann angeblich 2,2 Millionen Dollar – „denn mehr konnte er nach Auskunft seines Steuerberaters nicht absetzen“. Vier Jahre später erhielt Getty im Rahmen einer Operation in Los Angeles eine Ohrprothese aus Knorpel, der seiner Rippe entnommen worden war.
Das bekannteste Ohr der niederländischen Kunst ist natürlich Vincent van Goghs linkes Ohr. Die Geschichte vom Verlust des Ohres ist so dominant, dass sie fast den Blick auf seine Bilder versperrt. Verächtlich nennt der Kritiker Robert Hughes es das „Heilige Ohr“.
Wenige Tage vor dem Weihnachtsfest des Jahres 1888 geriet van Gogh mit seinem Freund Paul Gauguin in Streit, den er überredet hatte, bei ihm in Arles zu arbeiten. Nachdem sie aneinandergeraten waren, schnitt sich der Holländer das Ohr ab und gab es einer Prostituierten namens Rachel. „Heb es gut auf“, bat er sie. Was sie damit anfangen sollte, wissen wir ebenso wenig, wie was sie damit tat. Van Gogh ging nach Hause, und am nächsten Morgen fand die Polizei ihn beinah bewusstlos auf einem blutgetränkten Kissen liegend. So lautet die offizielle Version. Die Untersuchungen zweier deutscher Kunsthistoriker deuten auf einen anderen Tathergang hin. Hans Kaufmann und Rita Wildegans glauben, dass Gauguin seinem Freund während des Kampfes die Wunde mit einem Schwert beigebracht habe und dass die beiden Künstler die Angelegenheit vertuschen wollten. Stellt man in Rechnung, dass die offizielle Version vor allem auf Gauguins eigenen Aufzeichnungen beruht, ist das nicht ganz unplausibel.
Wie dem auch sei, es stellt sich die Frage, warum auf dem ein oder zwei Monate später entstandenen Selbstporträt mit verbundenem Ohr nicht das linke, sondern das rechte Ohr so auffällig verbunden ist. Ein weiteres Selbstporträt von 1889 – die geistige Gesundheit des Künstlers hatte sich inzwischen etwas gebessert – zeigt ihn im Dreiviertelprofil mit intaktem Ohr. Zahlreiche Zeitungen berichteten über Kaufmanns und Wildegans’ Studie und zeigten das Bild mit dem verbundenen rechten Ohr, obwohl die jeweiligen Artikel ungerührt vom abgeschnittenen linken Ohr sprachen.
Die Erklärung ist natürlich, dass van Gogh sich beim Malen im Spiegel sah. Auf beiden Bildern trägt er denselben zugeknöpften Mantel. Der Knopf sitzt links und steckt im rechts sitzenden Knopfloch – wie es bei Damenmänteln üblich ist. Bei Herrenmänteln verhält es sich normalerweise umgekehrt, ein weiteres Indiz also für die Spiegeltheorie. Auch eine von dem befreundeten Dr. Gachet an van Goghs Totenbett angefertigte Zeichnung zeigt ganz deutlich das geschädigte
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