Anatomien
Rembrandt“, schreiben sie. Alle vier haben nicht nur gemalt, sondern auch besonders gut gezeichnet.
Den meisten Künstlern sind die Ohren nicht so wichtig – für sie sind sie im wahrsten Sinne des Wortes eine Nebensache. Als ich den Querschnitt eines Kopfes zeichnen sollte, konnte ich mich um die Ohren nicht herumdrücken. Ich dachte, dass mir die geschwungene Grundform gut gelungen sei, widmete mich der Schattierung und war insgesamt einigermaßen zufrieden, bis ich bemerkte, dass ich das ganze Ohr mehrere Zentimeter zu niedrig angesetzt hatte. Solche Anfängerfehler unterliefen den alten Meistern natürlich nicht. Doch auch deren Ohren sind erstaunlich wandlungsfähig und beweglich. Viele Künstler haben ihr „eigenes Ohr“, anhand dessen man ihre Werke identifizieren kann. Das liegt auch daran, dass die Form des Ohres sich stärker als die vieler anderer Merkmale von Mensch zu Mensch unterscheidet.
Der Star auf Jan van Eycks Madonna des Kanonikus van der Paele von 1436, das im Groeninge Museum in Brügge hängt, ist sicher nicht die im Zentrum thronende Madonna oder das Jesuskind auf ihrem Schoß, sondern der andere Namensgeber des Gemäldes. Der Kanonikus begegnet der Jungfrau in der Sint-Donaaskathedraal in Brügge. Die Madonna ist unscheinbar und ausdruckslos, der Geistliche dagegen stark individualisiert. Er kniet murmelnd auf der rechten Seite des Bildes. Er hat gerade seine Brille abgenommen (ein damals neues Gerät), und so sieht man ein Gesicht voller Falten und Narben. Sein ausladendes Kinn schiebt sich durch wabbelnde Wangen nach vorn. Seine wässrigen, von schweren Säcken umgebenen Augen blicken unerbittlich drein. Im Vergleich mit der Madonna und den in Brokat gekleideten, von Mitren gekrönten Heiligen Georg und Donatian um sie herum ist seine äußere Erscheinung bescheiden. Mit den einfachen Kleidern und dem verschrumpelten Gesicht wirkt er fast so, als hätte man ihn aus einem modernen Foto ausgeschnitten und auf das Gemälde geklebt.
Früher war das Porträt noch realistischer. Man vermutet, dass der Kanonikus zunächst eine große Warze oder einen Tumor auf seinem linken Ohr hatte. Als er für den Künstler Modell stand, entschied er sich offenbar, ihm die linke Seite zuzuwenden. Und der Künstler malte die Warze. Hier und auf anderen Werken zeigt sich, wie sehr van Eyck die hässlichen Einzelheiten der menschlichen Erscheinung faszinierten. Aber die Warze ist verschwunden. Warum, können wir nicht mit Sicherheit sagen. Die Geschichte hat sich über sie hinweggesetzt. Einer Schilderung zufolge wurde sie bei der Restaurierung des Gemäldes 1934 übermalt, aber das Museum will das nicht kommentieren.
Wir wissen heute, dass Warzen etwas mit einer Virusinfektion zu tun haben können, aber noch im 17.
Jahrhundert brachte man sie oft mit der Hexerei in Verbindung, sodass es verständlich gewesen wäre, wenn van Eyck sie erst gar nicht gemalt hätte. Zweifellos fehlen auch auf anderen berühmten Gemälden viele Warzen. Dass ein solches Mal trotzdem auf einem Gemälde auftaucht, bezeugt die für die egalitären Ideale der nördlichen Renaissance typische realistische Einstellung des Malers. Die berühmteste Kunstwarze stammt ebenfalls von einem Künstler niederländischer Herkunft, jenem Peter Lely, dem das Kunststück gelang, in England sowohl für Charles I. und nach der Restauration für Charles II. zu arbeiten als auch, zwischendurch, ein monumentales Porträt von Oliver Cromwell anzufertigen. Die Legende besagt, dass Cromwell darum bat, „mit Warze und allem Drum und Dran“ gemalt zu werden. Das Zitat wurde hundert Jahre später von Horace Walpole festgehalten. Er überliefert die Anordnung, „alle Unreinheiten, Pickel und Warzen zu berücksichtigen und alles so zu malen, wie Sie es sehen – andernfalls werde ich keinen Penny für das Gemälde zahlen“. Cromwell hatte eine große Warze auf der Unterlippe, wie sowohl Lelys Gemälde als auch Cromwells Totenmaske bezeugen.
Rembrandt ist für seine ungerührt realistischen Selbstporträts bekannt, die er im Lauf seines ganzen Lebens anfertigte. Ein weiterer zum Kunstkritiker gewordener Arzt, Ben Cohen, ein ehemaliger HNO-Chirurg, bemerkte 2003, dass das Ohr auf vielen dieser Bilder geschwollen und geschädigt aussieht. Auf späteren Porträts hängt an dem Ohrläppchen des geschädigten Ohrs unterhalb des verhärteten Gewebes ein Ring. Cohen vermutet, dass das Ohrloch zunächst nicht richtig gestochen wurde und die Prozedur später
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