Anatomien
sich aber an Blut, Schleim, gelber Galle und schwarzer Galle ablesen. Blut transportierte alle Säfte sowie jene dünnere Flüssigkeit, die man Geist nannte, durch den Körper. Zum Schleim gehörte eine ganze Bandbreite proteinhaltiger Sekrete wie Tränen, Schweiß und Nasenschleim. Gelbe Galle sah man im Eiter einer heilenden Wunde und in den Magensäften am Werk, schwarze Galle in geronnenem Blut und einem ungewöhnlich dunklen Stuhl. Die vier Säfte drückten im menschlichen Mikrokosmos dasselbe Gleichgewicht aus wie die vier Elemente Erde, Luft, Feuer und Wasser sowie die vier Jahreszeiten im Makrokosmos. Krankheiten interpretierte man als Ungleichgewicht der Säfte. Choleriker litten an einem Überfluss an gelber Galle, die dieselben heißen und trockenen Eigenschaften besaß wie das Element Feuer. Phlegmatiker waren im Gegensatz dazu kalt und feucht wie Wasser, Melancholiker trocken und kühl wie die Erde, Sanguiniker schließlich warm und feucht wie Blut und Luft. (Die Logik dieses sauberen Systems war so überzeugend, dass die Ärzte in Nordeuropa, wo die Luft kalt und die Erde feucht ist, offenbar übersahen, dass es ganz auf die mediterranen Klimabedingungen abgestellt war.)
Die Ärzte konnten eine Unterversorgung mit einem der vier Säfte nur dadurch ausgleichen, dass sie das relative Übermaß eines anderen abbauten. Mit dem Aderlass ging das am leichtesten. Gegen zu viel Schleim halfen schleimlösende Mittel, gegen zu viel gelbe Galle Brechmittel, gegen zu viel schwarze Galle Abführmittel. Der ganze Körper wurde zu einer Art hydraulischem Netzwerk aus Kanälen,Überläufen und Schleusen, die als Abflüsse dienten und alles in Ordnung halten sollten. Die Humoralpathologie erscheint uns heute vielleicht primitiv, aber das von ihr errichtete System war schlüssig, das beweist nicht zuletzt seine lange Lebensdauer. Größtenteils war es auch empirisch untermauert. Mir scheint inzwischen, dass ein halbjährlicher Aderlass besser für mich ist als eine moderne Entgiftungstherapie, nur sind mir die Rituale der Gesundheitsbehörden doch lieber als der Stachelroller.
Die Säftelehre hat viele Spuren in der modernen Medizin hinterlassen. Bluttests, Stuhlproben, das Horchen auf den Husten und die Beobachtung von Wunden gehören zu ihrem diagnostischen Erbe – und seit einigen Jahrzehnten verstehen wir auch, wie wichtig die Endokrinologie ist. Wir begreifen, welch wichtige Rolle die Hormone für unseren Stoffwechsel und unsere Stimmungen spielen, und reden über das Dopamin und Melatonin, die Endorphine und das Adrenalin genau so wie unsere Vorfahren über die vier unsichtbaren Säfte.
Ohren
Ich stelle mir gern so einen bestimmten Typ Arzt vor, der, mit Fliege und aufmerksamen Augen, die Museen der Welt auf der Suche nach künstlerischen Darstellungen aus seinem medizinischen Fachgebiet durchstreift. Er ist längst in Rente, aber immer noch begeistert von jenem Körperteil, der ihn einst zur Medizin brachte. Hepatologen stehen hochkonzentriert vor antiken Darstellungen des an einen Felsen geketteten Prometheus, dem ein Adler die Leber auspickt (sicher bewundern sie, dass sich das Organ jede Nacht regeneriert, sodass es am nächsten Tag wieder von vorn losgehen kann). Podiater sind entzückt, wenn sie entdecken, dass ein Künstler einem Menschen aus Gründen der Balance oder aus reiner Unaufmerksamkeit zwei linke Füße verliehen hat (das passiert öfter, als man denkt).
Folgen wir diesen Liebhabern und beschäftigen wir uns einmal mit dem Ohr in der niederländischen Malerei. Auf Porträts spielt es eine ganz besondere Rolle. Allgemein gilt die Hand als der am schwersten zu zeichnende Körperteil. Fast jedes Porträt braucht Gesichtszüge, Augen, Nase und Mund. Die Ohren dagegen gehören nicht immer dazu. Sie können sich unter einer Krempe oder sogar hinter einem extravaganten Kragen verstecken. Tatsache ist: Nur die wagemutigsten Künstler sollten sich am Ohr versuchen. Selbst auf Vermeers Mädchen mit dem Perlenohrring sieht man nur das Ohrläppchen. Die museumsbegeisterten Ärzte, die mich auf diese Spur brachten und denen ich außerordentlich dankbar bin, sind der Schönheitschirurg Wolfgang Pirsig und der Medizinhistoriker Jacques Willemot, die zusammen eine kleine Kulturgeschichte vonOhr, Nase und Hals herausgegeben haben. „Die Ohren spielen bei vier herausragenden Malern eine große Rolle, deren Porträts besonders realistisch sind: Hieronymus Bosch, Leonardo da Vinci, Albrecht Dürer und
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