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Anatomien

Anatomien

Titel: Anatomien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hugh Aldersey-Williams
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wiederholt werden musste. „Es muss ihm wirklich wichtig gewesen sein, sonst wäre er nicht noch einmal dasselbe Verletzungsrisiko eingegangen“, schreibt Cohen. Wie van Eycks Darstellung von Kanonikus van der Paeles deformiertem Ohr bezeugt das Gemälde die Ehrlichkeit des Künstlers. Rembrandt hätte sich auch einfach von der anderen Seite malen können.
    Im Garten der Lüste entwickeln die Ohren ein Eigenleben. So bekannt Hieronymus Boschs um die Wende zum 16.

Jahrhundert entstandenes Triptychon sein mag, es ist so voller chaotischer Einzelheiten, dass viele von ihnen selbst dem aufmerksamen Betrachter entgehen. Links sind Adam und Eva im Garten Eden zu sehen, in der Mitte tummeln sich nackte Menschen und exotische Vögel neben riesigen Früchten im Paradies, und rechts sehen wir direkt in die Dunkelheit der Hölle. Menschenfressende Monster, grausige Gewaltakte, abgehackte Köpfe, Hände und Füße, Brände und Ausscheidungen, sogar ein Schwein mit dem Kopfschmuck einer Nonne verbildlichen eindrücklich die Strafen für die sieben Todsünden.
    An prominenter Stelle, direkt über der Figur eines Mannes, dessen Beine Baumstümpfe sind, dessen Rumpf aus einer zerbrochenen Eierschale besteht und der vielleicht Bosch selbst darstellt, steckt ein riesiges Messer zwischen zwei ebenso riesigen Ohren. Das Ganze erinnert fatal an ein männliches Geschlechtsteil. In dem uns zugewandten Ohr steckt eine kleine dunkle Figur, die einer anderen Figur beim Einsteigen hilft. Vielleicht handelt es sich um Dämonen – Ohrringe sollten ursprünglich böse Geister fernhalten, unddie hier zu sehenden Ohren sind ungeschmückt und folglich unbewacht. In der anderen Hand hält die dunkle Figur einen Speer, mit dem sie ins Fleisch des Ohres sticht. Beide Ohren werden außerdem von einem großen Pfeil durchbohrt.

    Was bedeutet diese komplizierte Darstellung? (Übrigens können Sie in der Londoner Nationalgalerie eine kleine Figurine dieses Motivs, mit oder ohne Dämonen, erwerben, obwohl das Gemälde sich eigentlich im Prado in Madrid befindet.) Boschs Gemälde geht weit über den narrativen Realismus hinaus, mit dem nordeuropäische Künstler ihren gläubigen Mitbürgern die Botschaft der Bibel nahebringen wollten, und zeigt eine alptraumhafte Welt, die an die dunkle Seite der Psychoanalyse gemahnt. Die meisten Szenen beziehen sich ganz offensichtlich auf die Todsünden. Völlerei und Lust werden besonders hart bestraft. Einige Figuren übergeben sich, und ein besonders Unglücklicher rennt mit brennendem Hintern an einer Reihe schwarzer Vögel vorbei. Die abgeschnittenen Ohrensollen vielleicht vor Tratsch und Lauscherei warnen, die zu Neid und Wut führen. Wer solcher Sünden schuldig ist und diese durchbohrten Ohren sieht, wird den Stich auch in den eigenen Ohren fühlen!
    In Boschs Hölle geht es angesichts der vielen Musikinstrumente so laut zu, dass einige Bewohner sich die Ohren zuhalten. Ärzte weisen allerdings darauf hin, dass die riesigen Ohren keine Gehörgänge besitzen und folglich ohnehin nichts hören könnten. Innen- und Mittelohr enthalten die Mechanismen, mit deren Hilfe wir hören, während die Ohrmuschel nur dazu dient, Geräusche zu bündeln. Brutal illustriert hat Quentin Tarantino das in seinem Film Reservoir Dogs, in dem der Gangster Mr. Blonde dem gefangenen Polizisten das Ohr abschneidet und dann in dieses hineinspricht, um zu sehen, ob der Polizist ihn hören kann. Die Ohrmuscheln bündeln Geräusche und leiten sie ins Innenohr weiter. Wer sich seine Segelohren operativ verkleinern lässt, hört also nachher etwas schlechter. Der belgische Maler René Magritte stellt die Reise von Geräuschen ins Ohr auf einer kleinen Gouache dar, die Bosch an Surrealismus in nichts nachsteht. Eins seiner Bilder zeigt eine riesige, auf einem Strand stehende Muschel, deren spiralförmige Fortsätze dem menschlichen Ohr nachempfunden sind.
    Dass man überhaupt von der „Ohrmuschel“ spricht, ist bezeichnend. Die Metapher ist noch viel zutreffender, als man auf den ersten Blick meinen könnte. Dass wir verschiedene Tonhöhen unterscheiden können, verdanken wir der Cochlea, einem hohlen, schneckenförmigen Knöchelchen im Innenohr. Es funktioniert ungefähr wie ein umgedrehtes Waldhorn. Auf der ganzen Länge des spitz zulaufenden Schlauchs befinden sich winzige Härchen, die wie die Saiten eines Klaviers je nach Position auf eine bestimmte Tonhöhe ansprechen. Als Reaktion auf bestimmte Schallfrequenzen, die vom

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