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Anatomien

Anatomien

Titel: Anatomien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hugh Aldersey-Williams
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Gewebe um das linke Ohr.
    Dass ein Künstler einen Spiegel benutzt, um ein Selbstporträt anzufertigen, ist nichts Ungewöhnliches. Künstler fertigten ihre Selbstporträts von jeher mit seiner Hilfe an. Wohl nicht zufällig blühte das Genre zu der Zeit richtig auf, in der Spiegel weite Verbreitung fanden. Rembrandt zum Beispiel malte einige größere Selbstporträts, nachdem er einen größeren Spiegel gekauft hatte. Und doch wirft das alles ernste Fragen auf. Ist es denn wirklich so ganz gleichgültig, ob rechts und links vertauscht sind? Dem Betrachter vielleicht, aber kann es dem Künstler egal sein? Ganz augenscheinlich repräsentiert das Gemälde den Künstler nicht korrekt, es bildet nicht sein wahres Selbst ab. Jan van Eyck zeigte uns die ungeschminkte Wahrheit des Kanonikus van der Paele, Vincent van Gogh zeigt uns lediglich den Abglanz der Wahrheit – aber vielleicht auch eine noch tiefere Wahrheit. Durch den Einsatz des Spiegels betont er nämlich bewusst die auffällige Asymmetrie der Verletzung. Van Gogh wollte uns, ebenso wie so viele Künstler vor ihm, wohl kaum einfach ein realistisches Abbild seiner selbst hinterlassen, er wollte uns vor allem seine Verletzung zeigen: Im Januar 1889 machte die Verletzung seine eigentliche Identität aus.
    Was haben wir auf diesem kleinen Spaziergang durch die Kunstgeschichte über das Ohr gelernt? Wir sahen das Ohr als Ort des Hässlichen und der Unvollkommenheit, als schillerndes Symbol, als Ort der Strafe, als Liebesbeweis und als Ausweis eines gefährlichen Selbsthasses. Vielleicht kann es so viele Rollen spielen, weil es so formbar ist. Das Außenohr besteht ausschließlich aus weichem Gewebe und Knorpel. Es enthält keine Knochen. Folglich kann es deformiert und wieder in Form gebracht, weggeschnitten und wieder ersetzt werden. Es ist ein gutes Beispiel für menschliches Gewebe, das so, aber auch anders aussehen kann.
    Dadurch kann das Fleisch der Ohrmuschel für den gesamten Körper stehen, den toten wie den lebenden. Das Mimizuka-Denkmal in Kyoto, das selbst viele Einheimische nicht kennen, enthält Stapel von abgeschnittenen Ohren, die die Japaner von ihrem Feldzug in Korea in den 1590ern mitbrachten. Sie entschieden sich für Ohren und nicht für Köpfe, weil sie so viele Koreaner umbrachten – einer Quelle zufolge bis zu 126

000. Wer einem lebenden Menschen die Ohrmuschel abschneidet, fügt ihm nur eine kleine Wunde zu. Da keine wichtigen Blutgefäße in Mitleidenschaft gezogen werden, ist sie nicht tödlich. Und doch steht das Ohr für den ganzen Menschen.
    Dabei ist es für das tatsächliche Gehör eher nebensächlich, denn das innere Ohr leistet die ganze Arbeit. Die Ohrmuschel ist nur so etwas wie ein Bonus, sie dient erotischen Zwecken, als Brillenhalterung oder zur Dekoration. Hier wird das Fleisch zur Skulptur, und zwar mit wunderschönen barocken Kurven. Die Runzeln auf der Außenseite entstehen übrigens aus den sechs sogenannten Ohrmuschelhöckern des Embryos. Einige dieser Höcker erzählen beinahe vergessene Geschichten. Der Darwinhöcker ist das letzte Überbleibsel einer Falte, die es der Ohrmuschel früher ermöglichte, sich über den Gehörgang zu legen. Ein anderer Höcker wurde auch schon mit einer kriminellen Veranlagung in Verbindung gebracht. Schönheitschirurgen sollen ihn manchmal entfernen.
    Kunst und Naturwissenschaft verbreiten diese Vorstellungen weiter, und das Ohr bleibt ein Ort, an dem man seine Kunst beweisen kann. Die Kritikerin Edwina Bartlem stellt fest: „Eigenartigerweise werden gerade an Ohren die Leistungsfähigkeit künstlichen Gewebes und die Macht der Biotechnologie demonstriert.“ 1995 pflanzten Charles Vacanti von der University of Massachusetts und Linda Griffith-Cima vom Massachusetts Institute of Technology einer lebenden Maus Gewebe in Form eines menschlichen Ohres auf den Rücken. Hören konnte die Maus mit diesem Gewebe nicht. Es war einfach auf einem Polyestergerüst gewachsen und hätte in jede beliebige Form gebracht werden können. Warum also ein Ohr? Durchdas Experiment wurde sichtbar, dass es in Zukunft möglich sein wird, Knorpelstrukturen für Ohrtransplantate herzustellen. Aber auch die Freude an der Form spielte sicher eine Rolle. Der Laie konnte angesichts der leichten Erkennbarkeit des Organs die Potenziale der neuen Technologie sofort verstehen. Vielleicht wollten die Wissenschaftler die Öffentlichkeit auch schockieren. Die Maus mit dem Ohr auf dem Rücken symbolisierte schon bald

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