Anbetung
Rosalia Sanchez sämtliche Einzelheiten. Sie hat jedes Buch über das Thema gelesen, das sie auftreiben konnte.
Sie weiß von dem unerklärlichen, offenbar urplötzlichen Verschwinden hunderttausender Maya aus den Städten Copán, Piedras Negras und Palenque im Jahr 610 n. Chr.
Wenn man Rosalia das Ohr zu einer ernsthaften Diskussion über solche historischen Fälle leiht, dann gibt sie es nicht mehr so leicht frei. Zum Beispiel weiß ich mehr, als mir lieb ist – und unendlich viel mehr, als ich wissen muss – über eine Division aus dreitausend chinesischen Soldaten, die sich 1939 bei Nanking bis zum letzten Mann in Luft aufgelöst hat.
»Na ja«, sagte ich, »immerhin sind Sie heute Morgen sichtbar. Sie können sich auf einen ganzen weiteren Tag Sichtbarkeit freuen, und das ist doch ein Segen.«
Rosalias größte Angst ist es, an eben dem Tag, an dem ihre Lieben wieder sichtbar gemacht werden, selbst zu verschwinden.
Obwohl sie sich nach deren Rückkehr sehnt, fürchtet sie sich vor den Folgen.
Sie bekreuzigte sich, sah sich in ihrer gemütlichen Küche um und lächelte endlich. »Ich könnte irgendetwas backen.«
»Sie könnten alles backen«, sagte ich.
»Was soll ich denn für dich backen, Odd Thomas?«
»Wenn ich das sage, ist es nachher keine Überraschung.« Ich sah auf meine Armbanduhr. »Jetzt muss ich aber zur Arbeit.«
Sie begleitete mich zur Tür und drückte mich zum Abschied. »Du bist ein guter Junge, Odd Thomas.«
»Und Sie erinnern mich an meine Oma Sugars«, sagte ich, »außer dass Sie nicht Poker spielen, nicht Whiskey trinken und nicht schnelle Autos fahren.«
»Das ist aber lieb«, sagte sie. »Ich hab Pearl Sugars nämlich unheimlich bewundert. Sie war so weiblich, aber auch so …«
»Schlagkräftig«, schlug ich vor.
»Genau. Beim Erdbeerfest der Kirche hat einmal jemand randaliert, wahrscheinlich war er bis oben voll mit Drogen oder Schnaps. Pearl hat ihn mit gerade mal zwei Schlägen zu Boden gestreckt.«
»Sie hatte einen tollen linken Haken.«
»Allerdings hat sie ihm zuerst in die Weichteile getreten. Aber ich glaube, sie wäre auch mit ihm fertig geworden, wenn sie bloß die Fäuste verwendet hätte. Manchmal hab ich mir gewünscht, mehr so zu sein wie sie.«
Von Mrs. Sanchez’ Haus ging ich sechs Straßen weit bis zum Pico Mundo Grill, der mitten im Stadtzentrum von Pico Mundo steht.
Mit jeder Minute, die sich der Morgen vom Sonnenaufgang entfernte, wurde er heißer. Von der Bedeutung des Wortes Mäßigung haben die Götter der Mojavewüste offenbar nie gehört.
Die langen Morgenschatten wurden vor meinen Augen kürzer; sie zogen sich von immer wärmer werdenden Rasenflächen zurück, von schmorendem Asphalt, von betonierten Gehsteigen, die zum Braten von Spiegeleiern so geeignet waren wie die Bratplatte, vor der ich bald stehen würde.
Die Luft hatte nicht genug Energie, um sich zu bewegen. Die Bäume hingen schlaff da. Die Vögel verzogen sich entweder in belaubte Verstecke oder flogen höher dahin, als sie es in der Dämmerung getan hatten, weit oben, wo die dünnere Luft weniger Hitze speichern konnte.
In dieser welken Stille sah ich auf dem Weg von Mrs. Sanchez’ Haus zum Grill drei sich bewegende Schatten. Alle waren unabhängig von einer Quelle, weil es keine gewöhnlichen Schatten waren.
Als ich jünger war, habe ich diese Gebilde als Schemen bezeichnet. Aber das ist bloß ein anderes Wort für Geister, und sie sind keine Geister wie Penny Kallisto.
Ich glaube nicht, dass sie je in menschlicher Gestalt durch diese Welt gezogen sind oder das Leben kannten, wie wir es kennen. Ich vermute, dass sie nicht hierher gehören und dass ihre eigentliche Heimat ein Reich der ewigen Dunkelheit ist.
Ihre Gestalt ist fließend, ihre Substanz nicht stärker als die von Schatten. Ihre Bewegung ist geräuschlos. Ihre Absichten sind zwar geheimnisvoll, doch sicher nicht von guter Art.
Oft schleichen sie dahin wie Katzen, die Menschengröße haben. Gelegentlich laufen sie auch halb aufrecht wie Traumwesen, die halb Mensch, halb Hund sind.
Ich sehe sie nicht oft. Wenn sie erscheinen, kündigt ihre Anwesenheit immer Unheil an, das schlimmer ist als gewöhnlich und eine dunklere Dimension hat.
Für mich sind sie jetzt keine Schemen mehr. Ich nenne sie Bodachs .
Das Wort Bodach habe ich von einem sechsjährigen Jungen aus England gelernt, der hier zu Besuch war. Er hat es verwendet, als er ein Rudel solcher Wesen durchs Zwielicht von Pico Mundo streifen sah. In
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