ANDERSENS MÄRCHEN ((Sämtliche Werke)) (German Edition)
ja sie ist ganz jung, ist ein liebreizendes Mädchen mit blonden Locken, mit rosigen, runden Wangen, schmuck und lieblich, keine Rose kann frischer sein. Doch die Augen, die milden sanften Augen, ja das sind immer noch Großmutters Augen. An ihrer Seite sitzt ein Mann, so jung und kräftig und schön; er reicht ihr die Rose, und sie lächelt, - so lächelt Großmutter doch nicht.- Ja, das Lächeln ist da. Er ist fort; nun gehen viele Gedanken und Gestalten vorüber. Der schöne Mann ist fort, die Rose liegt im Gesangbuche, und Großmutter - ja, da sitzt sie wieder, eine alte Frau, und betrachtet die verwelkte Rose, die im Buche liegt.
Nun ist Großmutter tot. - Sie saß im Lehnstuhl und erzählte eine lange, lange herrliche Geschichte: "Und nun ist sie aus," sagte sie, "und ich bin so müde, laßt mich nun ein wenig schlafen!" Und dann lehnte sie sich zurück und atmete sanft; sie schlief. Aber es wurde stiller und stiller und ihr Antlitz war so voller Frieden und Glück, es war gleichsam, als ob der Sonnenschein darüber hinglitte, und da sagten sie, sie sei tot.
Sie wurde in den schwarzen Sarg gelegt. Dort lag sie, in weißes Linnen gehüllt; sie war so schön, aber die Augen waren geschlossen; alle Runzeln waren nun fort,
und sie lag mit einem Lächeln um den Mund. Ihr Haar war so silberweiß, so ehrwürdig, ihr Anblick flößte gar keine Furcht ein, es war ja die liebe, herzenesgute Großmutter. Und das Gesangbuch wurde unter ihren Kopf gebettet, das hatte sie selbst verlangt, und die Rose lag in dem alten Buche; so wurde Großmutter begraben.
Auf dem Grabe, dicht unter der Kirchenmauer pflanzten sie einen Rosenbaum. Er stand voller Blüten, und die Nachtigall sang über ihm, und aus der Kirche hörte man die Orgel die schönsten Psalmen spielen, die in dem Buche unter dem Haupte der Toten standen. Der Mond schien gerade auf das Grab herab; aber die Tote ließ sich nicht blicken. Jedes Kind konnte des Nachts ruhig hingehen und sich dort an der Kirchhofmauer eine Rose pflücken. Ein Toter weiß mehr, als wir Lebenden wissen; der Tote kennt die Angst, die uns sein Wiedererscheinen einflößen würde. Die Toten sind besser als wir alle, und deshalb kommen sie nicht Es liegt Erde über dem Sarge und Erde darin. Das Gesangbuch mit seinen Blättern ist zu Staub zerfallen. Aber darüber blühen neue Rosen, darüber singt die Nachtigall und die Orgel spielt. Man denkt an die alte Großmutter mit den milden, ewig jungen Augen. Augen können niemals sterben. Die unsrigen werden sie einmal erblicken, so jung und schön wie damals, als sie zum ersten Male die frische, rote Rose küßte, die Staub im Grabe ist.
Ein Bild vom Kastellwall
Es ist Herbst, wir stehen auf dem Wall, der das Kastell umschließt und sehen über das Meer, auf die vielen Schiffe und zu der schwedischen Küste hinüber die sich klar im Abendsonnenschein erhebt. Hinter uns fällt der Wall steil zur Tiefe ab. Dort stehen prächtige Bäume, das Laub fällt gelb von den Zweige''; unten liegen düstere Häuser mit Holzpalisaden, und innen, wo die Schildwache geht, ist es enge und finster. Aber noch dunkler ist es dort hinter dem vergitterten Loche; da sitzen gefangene Sklaven, die ärgsten Verbrecher.
Ein Strahl der niedergehenden Sonne fällt in die kahle Zelle. Die Sonne scheint auf Böse und Gute! Der finstere, mürrische Gefangene folgt mit einem bösen Blick dem kalten Sonnenstrahl. Ein kleiner Vogel fliegt gegen das Gitter. Der Vogel singt für Böse und Gute!
Er zwitschert ein kurzes "Quivit", bleibt aber setzen; er schlägt mit den Flügeln, zupft ein Federchen heraus, plustert die Halsfedern auf und der böse Mann sieht ihm zu. Ein milderer Ausdruck geht über das häßliche Gesicht; ein Gedanke, ihm selbst nicht ganz bewußt, leuchtet in seiner Brust auf, dem Sonnenstrahl verwandt, der durch das Gitter fällt, dem Dufte der Veilchen verwandt, die im Frühling so reich draußen blühen. Nun klingt das Waldhorn lieblich und kräftig herein. Der Vogel fliegt vom Gitter des Gefangenen fort, der Sonnenstrahl verschwindet, und es wird dunkel in der Zelle, dunkel in des bösen Mannes Herzen, aber die Sonne hat doch hineingeschienen und der Vogel hineingesungen. Tönt fort, ihr schönen Klänge des Waldhorns! Der Abend ist mild, das Meer spiegelglatt und stille.
Der letzte Tag
Der heiligste von allen unseren Lebenstagen ist der Tag, an dem wir sterben; das ist der letzte Tag, der heilige, große Tag
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