ANDERSENS MÄRCHEN ((Sämtliche Werke)) (German Edition)
kleine Mädchen legte den Kern hinein und beide bedeckten ihn mit Erde.
"Nun darfst Du ihn aber morgen nicht wieder herausnehmen, um zu sehen, ob er Wurzeln bekommen hat," sagte sie, "das darf man nicht. Ich habe es mit meinen Blumen auch getan, aber nur zweimal, ich wollte sehen, ob sie wüchsen. Damals wußte ich es nicht besser, und die Blumen starben!"
Der Blumentopf blieb bei Anton, und jeden Morgen, den ganzen Winter lang, sah er nach ihm, doch es war nur die schwarze Erde zu sehen. Nun kam das Frühjahr, die Sonne schien warm, da sproßten aus dem Blumentopf zwei kleine grüne Blättchen hervor.
"Das bin ich und Molly!" sagte Anton, "ist das hübsch, ach, ist das einzigschön!"
Bald kam auch ein drittes Blatt; wen sollte das bedeuten? Da kam wieder eins und noch eins. Jeden Tag und jede Woche wurde das Pflänzchen größer und schließlich wurde es ein ganzer Baum. Alles spiegelte sich in der einen Träne ab, die zerdrückt wurde und verschwand. Aber sie konnte wieder hervorquellen - aus des alten Antons Herzen.
Dicht bei Eisenach dehnt sich eine Kette steiniger Berge aus, einer von ihnen ist stumpf und rund und trägt weder Baum noch Strauch noch Gras, er wird der Venusberg genannt. In seinem Innern wohnt Frau Venus, eine Göttin aus heidnischer Zeit, die auch Frau Holle genannt wird; das wußte und weiß noch jetzt jedes Kind in Eisenach. Zu sich hinein hatte sie den Ritter Tannhäuser gelockt, den Minnesänger aus der Wartburg Sängerkreis.
Die kleine Molly und Anton standen oft an dem Berge, da sagte sie einmal: "Getraust Du Dich anzuklopfen und zu rufen: Frau Holle, Frau Holle, mach auf, hier ist Tannhäuser" Doch das wagte Anton nicht. Molly wagte es. Doch nur die Worte: "Frau Holle! Frau Holle" rief sie laut und deutlich, den Rest ließ sie im Winde verfliegen, so undeutlich, daß Anton überzeugt war, daß sie eigentlich gar nichts gesagt habe. So keck sah sie dabei aus, so keck wie zuweilen, wenn sie mit anderen Mädchen ihm im Garten begegnete, die ihn alle küssen wollten, gerade weil sie wußten, daß er nicht geküßt sein wollte und um sich schlug; sie allein wagte es.
"Ich darf ihn küssen!" sagte sie stolz und nahm ihn um den Hals; darin lag ihre Eitelkeit, und Anton fand sich darein und dachte nicht weiter darüber nach. Wie reizend sie war und wie keck! Frau Holle im Berge sollte auch schön sein, aber ihre Schönheit, sagte man, sei die verführerische Schönheit des Bösen. Die höchste Schönheit dagegen sei die der heiligen Elisabeth, der Schutzheiligen des Landes, der frommen thüringischen Fürstin, deren gute Taten in Sage und Legende so manchen Ort hier umraunten. In der Kapelle hing ihr Bild von silbernen Lampen umgeben; - doch sie glich Molly nicht im entferntesten.
Der Apfelbaum, den die beiden Kinder gepflanzt hatten, wuchs Jahr für Jahr; er wurde so groß, daß er in den Garten in die frische Luft gepflanzt werden mußte, wo der Tau fiel, die Sonne warm herniederstrahlte und er Kräfte bekam, um dem Winter zu widerstehen. Nach des Winters Drangsal war es im Frühjahr gleichsam, als setze er vor Freude Blüten an, und im Herbst trug er zwei Äpfel, einen für Molly, einen für Anton, weniger hätten es auch nicht sein dürfen.
Der Baum war lustig emporgeschossen, und Molly hielt es wie der Baum, sie war frisch wie eine Apfelblüte; aber nicht lange durfte er die Blüte schauen. Die Zeiten wechseln, alles wechselt! Mollys Vater verließ die alte Heimat, und Molly zog mit ihm, weit fort. Ja, in unserer Zeit ist es nur eine Reise von wenigen Stunden, doch damals brauchte man mehr als Nacht und Tag, um so weit östlich von Eisenach, ganz an die äußerste Grenze von Thüringen nach der Stadt, die noch jetzt Weimar genannt wird, zu gelangen.
Und Molly weinte und Anton weinte; - alle die Tränen rannen in einer einzigen Träne zusammen, und diese hatte den rötlichen, lieblichen Schimmer der Freude. Molly hatte ihm gesagt, sie mache sich mehr aus ihm als aus aller Herrlichkeit Weimars.
Es verging ein Jahr, es vergingen zwei, drei Jahre, und in dieser ganzen Zeit kamen zwei Briefe, den einen brachte ein Fuhrmann, den anderen hatte ein Reisender mitgenommen. Sie hatten einen langen, beschwerlichen Weg, mit vielen Umwegen an Städten und Dörfern vorbei, hinter sich.
Wie oft hatten nicht Anton und Molly zusammen die Geschichte von Tristan und Isolde gehört, und ebenso oft hatte er dabei an sich selbst und Molly gedacht, obwohl
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