ANDERSENS MÄRCHEN ((Sämtliche Werke)) (German Edition)
Frühling selbst seine Sache. Er sprach von einem kleinen Apfelbäumchen herab. Daran saß nur ein einziger Zweig, der war so frisch, so blühend und ganz übersät mit feinen, rosenroten Knospen, die sich eben öffnen wollten; er wußte auch selbst, wie schön er war, denn das liegt im Blatt ebenso wie im Blut. Deshalb war er auch nicht überrascht, als der herrschaftliche Wagen vor ihm auf dem Wege anhielt und die junge Gräfin sagte, daß der Apfelzweig das lieblichste sei, was man sehen könne, er sei der Frühling selbst in seiner herrlichsten Offenbarung. Und der Zweig wurde abgebrochen und sie hielt ihn in ihrer feinen Hand und beschattete ihn mit ihrem seidenen Sonnenschirme. So fuhren sie nach dem Schlosse, wo es hohe Säle und reichgeschmückte Zimmer gab. Lichte, weiße Vorhänge flatterten an den offenen Fenstern, und herrliche Blumen standen in glänzenden, durchsichtigen Vasen, und in einer von diesen, die wie aus frischgefallenem Schnee geschnitten glitzerte, wurde der Apfelzweig mitten zwischen frische, lichtgrüne Buchenzweige gesetzt; es war eine Lust, ihn anzuschauen!
Da wurde der Zweig stolz, und das war ja nur menschlich!
Es kamen vielerlei Leute durch die Zimmer, und je nach ihrer Geltung durften sie ihrer Bewunderung Ausdruck geben. Manche sagten gar nichts und manche sagten zu viel, und der Apfelzweig sah daraus, daß es einen Unterschied zwischen den Menschen gibt ebenso wie zwischen den Gewächsen. "Manche sind zum Staat da, manche zur Nahrung und manche sind ganz überflüssig" meinte der Apfelzweig, und da er just an das offene Fenster gesetzt worden war, von wo aus er in den Garten, aber auch auf das Feld hinaus sehen konnte, gab es für ihn Blumen und Pflanzen genug zum Betrachten und um sich Gedanken darüber zu machen. Da standen reiche und arme, einige allzu arme.
"Arme, verworfene Kräuter" sagte der Apfelzweig, "da ist wahrlich ein Unterschied gemacht! Wie müssen sie sich unglücklich fühlen, wenn sie überhaupt fühlen können wie ich und meinesgleichen. Da ist wahrlich ein Unterschied gemacht! Aber er muß ja auch gemacht werden, sonst ständen wir ja alle auf der gleichen Stufe."
Und der Apfelzweig betrachtete mit einer Art Mitleid besonders eine Sorte von Blumen, die in großen Mengen an Feldern und Gräbern wuchsen. Niemand band sie zum Strauße, sie waren allzu gewöhnlich. Ja man konnte sie selbst zwischen den Pflastersteinen finden; sie schossen empor wie das ärgste Unkraut, und dann trugen sie zum Überfluß noch den häßlichen Namen "Des Teufels Milchschläuche.
"Armes, verachtetes Gewächs" sagte der Apfelzweig. "Du kannst nichts dafür, daß Du wurdest, was Du bist, daß Du so gewöhnlich bist und den häßlichen Namen bekamst, den Du trägst. Aber es ist mit den Gewächsen wie mit den Menschen: es müssen Unterschiede sein.
"Unterschiede?" sagte der Sonnenstrahl und küßte den blühenden Apfelzweig, aber er küßte auch die gelben Milchschläuche des Teufels, die Butterblumen draußen auf dem Felde, und alle Brüder des Sonnenstrahls küßten die Blumen, die armen wie die reichen.
Der Apfelzweig hatte noch nie über Gottes unendliche Liebe gegen alles, was da lebt und webt, nachgedacht, wie viel Schönes und Gutes verborgen aber nicht vergessen liegt - aber das war ja nur menschlich!
Der Sonnenstrahl, der Strahl des Lichtes wußte es besser: "Du siehst nicht weit, Du siehst nicht klar! - Wo ist die verworfene Pflanze, die Du so besondere beklagst?"
"Die Milchschläuche des Teufels!" sagte der Apfelzweig. "Niemals werden sie in einen Strauß gebunden. sie werden mit Füßen getreten, es gibt zu viele davon und wenn sie Samen tragen, fliegen sie wie kleine Wollföckchen über die Wege hin und hängen sich den Leuten an die Kleider. Unkraut ist es! Aber das muß ja auch sein. - Ich bin wirklich recht dankbar, daß ich nicht eine von diesen geworden bin!"
Über das Feld her kam eine ganze Schar Kinder. Das kleinste von ihnen war so winzig, daß es von den anderen getragen wurde, und als es ins Gras zwischen die gelben Blumen gesetzt wurde, jauchzte es vor Freuden laut auf, zappelte mit den kleinen Beinen, wälzte sich herum, pflückte nur die gelben Blumen und küßte sie in süßer Unschuld. Die etwas größeren Kinder brachen die Blüten von den hohlen Stengeln, bogen sie rund zu Ringen zusammen und reihten Glied an Glied, eine ganze Kette wurde daraus. Erst eine um den Hals, dann eine, die um Schultern und Leib
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