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Andreas Steinhofel

Andreas Steinhofel

Titel: Andreas Steinhofel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Mitte der Welt
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Gummistiefel
an. Es hätte ihr gar nichts passieren können, selbst wenn die
Schlange zugebissen hätte, aber das hinderte unsere Mutter
nicht am Schreien. Es war dieser mörderische Schrei, der
Dianne und mich in Bewegung versetzt hatte.
»Phil und Dianne haben sie in kleine Stücke gehackt«, fährt
Glass im Plauderton fort. Sie pustet in ihre Tasse. »Mit ihren
Hacken und den Schippen. Sie fielen über das Vieh her wie die
Berserker. Es ging ganz schnell. Lauter klitzekleine Stücke. Sie
haben ihrer Mum das Leben gerettet. Zucker, Nick?«
Nicholas lacht und reicht ihr seine Tasse. Ich hoffe, dass er
glaubt, Glass neige zu ironischer Übertreibung. Es wäre mir
peinlich, wenn er wüsste, dass sie jedes Wort ernst gemeint hat,
während sie sich wie eine mittelklassige Schauspielerin aus
einer ihrer geliebten Seifenopern in Szene gesetzt hat. Für eine
weitere halbe Stunde plappert und klappert sie wie die Mühle
am rauschenden Bach, raucht dabei eine Zigarette nach der
anderen, und Nicholas müsste eigentlich bemerken, dass sie
dabei auf Teufel komm raus mit ihm flirtet. Das wenigstens
wird sich im Nachhinein leicht relativieren lassen: Es ist ein
Automatismus. Glass flirtet mit jedem Mann, und fast immer ist
sie dabei erfolgreich. Es ist der nie versiegende Quell ihrer
Selbstbestätigung.
Kaum überraschend für mich erklärt Nicholas, als wir kurz
darauf nach oben gehen, wie sympathisch meine Mutter ihm ist.
»Sie ist ziemlich jung, oder?«
»Sie ist vierunddreißig.«
»Dann war sie ein Teenager, als sie euch in die Welt gesetzt
hat.«
»Ja.«
»Wo war dein Vater?«
»Keine Ahnung. Ich kenne ihn nicht. Er hat Glass sitzen
lassen.«
»So ein Idiot.«
Und keine weiteren Fragen zu Nummer Drei. Damit ist auch
diese Klippe genommen. Ich lotse Nicholas erleichtert in mein
Zimmer. Er blickt sich um, sehr gründlich.
Die eigene Wahrnehmung schärft sich, wenn man Vertrautes
durch die Augen eines anderen betrachtet. Auf einmal fühle ich
mich als Fremder in meinem eigenen Zimmer. Es ist groß und
ebenso hoch wie alle anderen Räume in Visible; zwei
Flügelfenster, keine Gardinen, viel Licht. In einer Ecke der
gekachelte Ofen, daneben noch ein paar Holzscheite aus der
letzten Kälteperiode. Auf dem abgeschabten Parkettboden liegt
meine Matratze, die Bettwäsche leuchtet hell; irgendwann hat
Glass in einer Truhe im Keller Dutzende von weißen Bezügen
gefunden. Neben der Matratze steht eine kleine, billige Lampe
auf dem Boden, die einzige, mit der ich den Raum beleuchten
kann, daneben mein Telefon. Bücher stapeln sich gegen die
Wand. Es gibt ein breites, wackeliges Regal, von dem zwei
ganze Fächer den ozeanischen Kostbarkeiten vorbehalten sind,
die ich im Laufe der Jahre von Gable erhalten habe. In den
übrigen geben sich mehr oder weniger angestaubte Überreste
meiner Kindheit ein Stelldichein. Zwischen abgegriffenen
Plüschtieren und ein paar Spielzeugautos lugt wie ein müdes
schwarzes Komma Paleiko hervor. Irgendwann habe ich einen
wurmstichigen alten Schreibtisch aus dem schier
unerschöpflichen Keller Visibles hier heraufgebracht und unter
eines der beiden Flügelfenster geschoben. Ein einziger Stuhl
steht davor. Es gibt keinen Sessel, kein Sofa, keinen Tisch. Wer
kaum Freunde hat, ist auf Besucher nicht eingerichtet.
»Wo sind deine Klamotten?«
»In einem Wandschrank, draußen im Flur. Ich kann Kleiderschränke nicht ausstehen.«
»Tatsächlich?« Wann immer Nicholas lächelt, so wie jetzt,
macht mein Herz einen kleinen Sprung. »Ich auch nicht.«
An den weiß getünchten Wänden hängen Bilder, die Gable
mir mitgebracht, und Dutzende von Postkarten, die er mir aus
allen Ecken der Welt geschickt hat. Den meisten Platz nehmen
die beiden großen, rissigen alten Schautafeln ein, die ich im
Beisein Wolfs aus dem alten Keller der Schule gestohlen habe,
die nadelbespickte Weltkarte, voller Knickfalten und an den
Seiten eingerissen, und die mit braunen Stockflecken übersäte
Karte von Nordamerika.
Nicholas geht auf das Regal zu, streckt zielsicher eine Hand
aus und nimmt eines von zwei bauchigen Gläsern mit
Schraubverschluss herunter, die auf dem obersten Brett stehen.
Ich muss unwillkürlich grinsen. »Ein Bonbonglas«, erkläre ich.
»Zwei davon habe ich, eins hat Dianne.«
»Bekomme ich die auch zu sehen?«
»Die anderen Gläser?«
»Deine Schwester.«
»Wohl eher nicht.«
Ich kann ihm unmöglich davon berichten, was letzte Nacht
vorgefallen ist, ohne ins

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