Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Andreas Steinhofel

Andreas Steinhofel

Titel: Andreas Steinhofel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Mitte der Welt
Vom Netzwerk:
Detail zu gehen. Alles ist so
unentrinnbar ineinander verwoben. Zu viele Erklärungen wären
notwendig, Erklärungen, die ihrerseits nach Erläuterungen
verlangen würden, und vermutlich käme, bei aller Mühe, die
zehn oder zwanzig verschiedenen Fäden einer sehr langen
Geschichte auseinander zu halten, am Ende doch nur ein recht
verwirrendes, gordisches Etwas heraus. Andererseits will ich
über Dianne nicht einfach hinweggehen.
»Sie schläft. Schätze ich. Es gab da gestern Abend einen
blöden Vorfall, und vermutlich wird sie in den nächsten Tagen
zu Hause bleiben und auch niemanden sehen wollen, weil…«
Nicholas winkt ab. »Ich hab davon gehört. Woher stammen
diese Gläser?«
Was mich überrascht, ist nicht, dass er die weit reichenden
Buschtrommeln der Kleinen Leute gehört hat, sondern wie
nonchalant er sich über die Geschichte hinwegsetzt und mich
damit aus der Misere befreit, sie vor ihm aufdröseln zu müssen.
»Von einem alten Mann«, antworte ich erleichtert.
»Großvater?«
»Nein. Jemand aus der Stadt, den ich als Kind kannte und sehr
gemocht habe.«
Nicholas betrachtet lange das Glas, sein Zeigefinger zieht
kleine, sich schlängelnde Linien über die eingestaubte
Oberfläche. In sein Gesicht tritt ein Ausdruck tiefster
Konzentration, der ihn wie weggetreten wirken lasst. Fast hat es
den Anschein, als würde er in das Glas hineinlauschen, als
würden seine Augen wie auch seine Finger den ungezählten
Bildern nachspüren, die sich einst auf der klaren, inzwischen
aber längst matten Oberfläche gespiegelt haben.
»Erzähl mir von dem alten Mann und von seinen Gläsern«,
sagt er schließlich.
»Das wird dich nur langweilen.«
»Oh, QED.« Nicholas lächelt. »Oder?«
    ICH GLAUBE, DIE MEISTEN Kleinen Leute jagten mir nur
deshalb Angst ein, weil sie mir so unwirklich vorkamen, so
wenig greifbar wie die zweidimensionalen Figuren aus einem
Schwarzweißfilm. Alle waren sie von einer ähnlichen
Transparenz, wie ich sie später beispielhaft in Gestalt von Frau
Hebeler verkörpert sehen sollte: Hüllen, durch die flackernd das
Leben hindurchschien, ohne je wirklich Besitz von ihnen zu
ergreifen. Als Kind empfand ich die Stadtbewohner als seltsam
blutleer und von der gleichen ungesunden Blässe, die das
ungeschminkte Gesicht von Terezas totem Vater mit seinem
nicht ganz vollständig zusammengefädelten Kiefer überzogen
hatte. Es gab Ausnahmen, natürlich. Annie Glösser war eine
von ihnen, doch lange vor Annie – zwei Jahre, um genau zu sein
– war da Herr Tröht.
    Herr Tröht führte einen düsteren, schlecht gehenden
Lebensmittelladen, der, weil er mit viel zu kleinen und noch
dazu stets verschmutzten Fensterscheiben bestückt war, sich nur
dann wirklich aufhellte, wenn knarrend die Tür aufschwang.
Prompt bimmelte dann ein altmodisches Glöckchen. Überhaupt
schien alles in Herrn Tröhts Laden altmodisch zu sein, Interieur
wie Besitzer. Es gab eine gigantische, mit allerlei Verzierungen
geschmückte Registrierkasse, die wie aus Gusseisen gefertigt
aussah und deren Kassenlade mit dem erschreckenden Geräusch
eines schnappenden Krokodilkiefers aufsprang, und es gab eine
runde Uhr mit einem Ziffernblatt aus weißem, zersprungenem
Porzellan, die an der Wand hinter dem Verkaufstresen
angebracht war und deren wunderbar verschnörkelte, metallene
Stunden- und Minutenzeiger man passenderweise nie in
Bewegung sah, Herr Tröht selbst hatte einen so winzig kleinen
Kopf, dass ich mir kaum vorstellen konnte, wie darin ein
ausgewachsenes Gehirn enthalten sein sollte. Ich beschloss,
dass dieser Kopf irgendwann größer gewesen sein musste, wohl
in Herrn Tröhts unvorstellbar weit zurückliegender Jugend; mit
dem Alter war er dann geschrumpft und runzlig geworden wie
eine vergessene Kartoffel. Groß waren indes Herrn Tröhts
Augen, allerdings nur dann, wenn er sich dazu entschloss, sie
weit zu öffnen. Das kam aber eher selten vor – meist waren sie
zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen -, denn Herr Tröht
war extrem kurzsichtig und trug eine Brille mit fingerdicken
Gläsern, die er genauso oft zu reinigen schien wie die
Fensterscheiben seines Ladens, also überhaupt nicht.
Vermutlich weil er ohnehin so gut wie blind war, gab es in
seinem Laden auch nur eine einzige, funzelige Glühbirne, die
gerade genug Licht warf, um sich selbst zu beleuchten. Herr
Tröht lebte, kurz gesagt, in einer Welt tiefer Dunkelheit. Doch
wenn die Ladentür sich öffnete, wurde

Weitere Kostenlose Bücher