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Andreas Steinhofel

Andreas Steinhofel

Titel: Andreas Steinhofel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Mitte der Welt
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regnete es Bonbons, und er rief dabei: »Für die Liebe, für die
Liebe auf der Welt!« Ich hätte mich zu gern auf seinen Schoß
gesetzt, nur um ihm zu lauschen, um seine Stimme zu hören,
wie er unsere hörte. Aber ich sah Herrn Tröht niemals sitzen,
immer stand er hinter der Ladentheke; man hätte glauben
können, er habe keinen Unterleib oder er sei bereits vor langer,
langer Zeit mit dieser Theke verwachsen. Herr Tröht musste
schon alt gewesen sein, bevor Glass auf die Welt kam, vielleicht
war er schon alt gewesen, als er selbst geboren wurde.
»Jedenfalls ist er mit Abstand der netteste alte Knacker, den
diese Stadt je gesehen hat«, sagte Glass einmal Diannes und
meiner übereinstimmenden Ansicht nach war es das größte
Kompliment, das wir unsere Mutter je für einen der Jenseitigen
hatten aussprechen hören, auch wenn wir es nicht ganz passend
fanden, weil wir statt Knacker Kacker verstanden hatten.
    Wenn Herr Tröht nicht den Mangel an Liebe in der Welt
beklagte, erzählte er vom Krieg. »Bie-fiff-diduus«, sagte er
immer wieder, und ich begriff erst Jahre später, dass er
B52Bomber damit meinte, »das waren die Schlimmsten! Kamen
aus Amerika, so wie ihr. Schacht auf, und es regnete Verderben,
und wisst ihr, meine Vögelchen, wir hatten es verdient! Wir
haben schlimme Dinge getan, schlimme Dinge im Krieg und
lange davor, die kein Gott uns nie verzeihen kann! Am Herzen
hab ich’s vor lauter Kriegen.« Er schüttelte langsam den
verknitterten Kopf. »Seid auch Amis, ihr Vögelchen, aber was
soll’s, was soll’s, es gibt zu wenig Liebe auf der Welt.«
    Wie bei allen Männern, so starrte ich auch bei Herrn Tröht auf
die Hände. Sie waren abstoßend, hässlich – groß wie Schaufeln,
mit dicken blauen Venen, die sich auf den Handrücken
verzweigten wie ein Flussdelta. Außerdem hatte der alte Mann
lange, knotige Finger. Diese Finger fischten wie
Pinzettenklammern in den Bonbongläsern herum, weil Herr
Tröht durch deren enge Hälse nicht anders an den Inhalt
heranzukommen vermochte, auf den Dianne und ich aufgeregt
warteten. »Und wie sagt das artige Kind?«, fragte er, nachdem
er unsere gierigen kleinen Münder gestopft hatte, worauf
Dianne und ich uns, nach einem leichten Schlag von Glass auf
den Hinterkopf, höflich bedankten. Mein Dank ging sogar so
weit, dass ich lange überlegte, ob ich Herrn Tröht, trotz seiner
hässlichen Hände, irgendwann auf die Wange küssen sollte. Der
Impuls war jedes Mal da, aber der Respekt vor einem Mann, der
mehrere Kriege mitgemacht hatte – der mich womöglich nicht
sah, wenn ich mich ihm mit gespitzten Lippen näherte, mich
also möglicherweise für eine nahende Bie-fiff-diduu halten
mochte, was sein Herz nicht ertragen würde -, hielt sich mit
dem Impuls die Waage, und so blieb Herr Tröht von mir
ungeküsst. Was ich aufrichtig bedauerte, als er eines Tages
plötzlich einfach nicht mehr da war.
    »Wo ist er?«, fragte ich Glass. Auf dem Heimweg von der
Schule hatte ich in Tröhts Laden vorbeisehen wollen, in der
Hoffnung auf einen Bonbon. Doch die Tür war verschlossen
gewesen.
    »Er war zu alt, um sein Geschäft weiterführen zu können.
Seine Tochter hat ihn abgeholt. Herr Tröht wohnt jetzt in einem
Altersheim.«
    »Ist das weit weg?«
»Viel zu weit«, antwortete Glass.
»Weiter als der Mond?«
»Nichts ist weiter weg als der Mond, Darling.«
    Es erstaunte mich, dass Herr Tröht eigene Kinder hatte, er
hatte nie davon erzählt. Sein Laden blieb lange Zeit
geschlossen. Monatelang drückte ich mir auf dem Heimweg von
der Schule die Nase an den schmutzigen, kleinen
Fensterscheiben platt, hinter denen nichts zu sehen war als ein
paar gekappte, trostlos von der Decke herabbaumelnde
Stromleitungen, die kaputte Wanduhr und leer geräumte Regale,
die langsam unter einer dicken Staubschicht verschwanden. Die
Registrierkasse war verschwunden. Schließlich wurde der
Laden renoviert, die alten Fenster entfernt und durch neue,
größere ersetzt. Ein Modegeschäft öffnete seine Pforten, und für
mich war die Welt um einen Zauber ärmer. Ich fragte mich, wo
die Gläser mit den Bonbons geblieben sein mochten, und kam
verärgert zu dem Schluss, dass Herr Tröht sie ins Altersheim
mitgenommen haben musste, wo die bunten Kugeln als
Gegenleistung für gute Taten zwischen verwelkten Lippen und
in zahnlosen Mündern verschwanden.
    Ein langes, bonbonloses Jahr später stand eine gepflegte ältere
Frau vor Visible. Sie

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