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Andreas Steinhofel

Andreas Steinhofel

Titel: Andreas Steinhofel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Mitte der Welt
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die Dunkelheit erhellt.
Dann fiel, wie von einem magische Blitzstrahl aus einem
Zauberstab gesandt, Licht auf das Ziel meiner Sehnsucht: eine
Reihe dickbauchiger, sich nach schräg oben öffnender und am
Hals verengter Gläser, die direkt neben der Registrierkasse auf
dem Tresen standen und in denen kleine, runde Bonbons in
allen Regenbogenfarben angeboten wurden. Glass führte
Dianne und mich manchmal in diesen Laden, nur um uns die
bunten Bonbons zu zeigen oder daran riechen zu lassen – sie
rochen auch wie ein Regenbogen, fand ich -, und nur in den
seltensten Fällen kaufte sie dort ein, da Herr Tröht zu ihrem
Bedauern kaum Fertigprodukte führte.
    Herrn Tröht schien das nicht weiter zu stören. Er war eine
Institution unter den Kleinen Leuten, von denen viele ihm auch
nach der irgendwann durch den Supermarkt entstandenen
Konkurrenz weiter die Treue hielten, und sei es nur, indem sie
im Laden wenigstens ein Stück Butter, Zigaretten oder die
Tageszeitung kauften. Vermutlich wäre es besser um Herrn
Tröhts Einkünfte bestellt gewesen, wenn er Informationen
anstelle von Lebensmitteln verkauft hätte, denn er kannte alle
und jeden, so wie alle und jeder ihn kannten, und war immer zu
einem Schwätzchen aufgelegt. Auf diesem Hintergrund wäre es
ein Wunder gewesen, wenn er nie etwas über die amerikanische
Dorfhure und ihre Hexenkinder gehört hätte. Doch ganz gleich,
was er gehört hatte, hielt ihn das nie davon ab, mit Glass wie
mit einer guten Freundin zu plaudern. Damals hatte ich Stein
und Bein geschworen, dass es Herrn Tröhts Bonbons waren, die
mich für ihn einnahmen. Heute glaube ich, dass es seine
Eigenart war, anderen Menschen ohne jedes Vorurteil zu
begegnen.
    »Hab mehrere Kriege mitgemacht«, erklärte er Glass mehr als
einmal, mit Worten so trocken, als wäre ihm Löschpapier um
die alten Stimmbänder gewickelt worden. »Sie wollen Spaß?
Haben Sie Spaß! Das Leben ist zu kurz, um es mit Kriegen zu
vergeuden. Sie geben Liebe? Gut so, sage ich! Gibt zu wenig
davon, zu wenig Liebe auf der Welt. Alle sollten Liebe machen,
meine Meinung, die Meinung vom alten Tröht. Hab’s am
Herzen vor lauter Kriegen.« Das gesagt, rollten die riesigen
Schlitzaugen in Diannes und meine Richtung. »Und ihr zwei
kleinen Vögelchen, habt ihr eine gute Tat vollbracht?«
    Ab und zu erhielten die beiden Vögelchen einen der
begehrenswerten Bonbons. Diese bunten Kugeln waren
unglaublich hart. Dianne und ich steckten im ersten Schuljahr,
und in der ganzen Klasse waren Herrn Tröhts Bonbons ein
Mythos. Manche Kinder behaupteten, er würde sie in einem
exotischen Land in Asien extra herstellen lassen – zweifellos
waren Herrn Tröhts zu Schlitzen verengte Augen hinter der
dicken Brille die Quelle dieser Annahme -, und es hieß, dass die
Bonbons nicht zerbrachen oder auch nur die Spur eines Kratzers
zeigten, wenn man sie mit aller Wucht gegen eine Hausmauer
oder auf den asphaltierten Gehsteig pfefferte. Was weder
Dianne noch ich je taten, dazu waren uns die Bonbons zu
kostbar. Für uns war völlig ausreichend, dass es auf Grund ihrer
geradezu magischen Härte viele Stunden dauerte, bis man sie
aufgelutscht hatte. Wir erhielten die Bonbons auch nicht ganz
ohne Gegenleistung: Die Frage, ob die Vögelchen eine gute Tat
vollbracht hatten, stellte Herr Tröht so regelmäßig, dass ich bald
zu dem Schluss kam, er halte uns aus einem nur ihm bekannten
Grund für Pfadfinder oder unsere Mutter für eine führende
Repräsentantin der Heilsarmee. Und während ich anfangs noch
antwortete, ich hätte ein Heupferdchen gefangen und es dann
wieder freigelassen, ich hätte meiner Mum von einem
Spaziergang einen Strauß Blumen mitgebracht, ich hätte in der
Schule einen Kaugummi unter den Tisch geklebt, dann aber
sofort wieder entfernt während ich mir also vor jedem
bevorstehenden Besuch des Ladens das Hirn verrenkte, um mit
einer möglichst attraktiven guten Tat aufzuwarten und dafür
eine entsprechend großzügige Belohnung einstreichen zu
können -, gab Dianne immer dieselbe Antwort: »Ich habe mich
beim Pipimachen auf die Toilette gesetzt.« Und immer erhielt
sie darauf, ungerechterweise, dieselbe Anzahl an Bonbons wie
ich.
    So stellte ich fest, dass Herrn Tröht die Natur unserer guten
Taten völlig gleich waren. Kurzsichtig bis zur Blindheit, wie er
nun einmal war, schien er seine Fragen lediglich zu stellen, um
unsere Stimmen zu hören, denn unabhängig von den Antworten

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