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Andreas Steinhofel

Andreas Steinhofel

Titel: Andreas Steinhofel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Mitte der Welt
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die offene große Tür sehe ich Wolf im Innern des
Hauptgebäudes, totenbleich, eine dünne Hand am Geländer der
Treppe, die in den ersten Stock führt. Um ihn herum teilen sich
die Schülermassen wie um einen Fels in der Brandung. Ich
stehe starr, wie festgeeist.
»Kat?«, flüstere ich.
Jemand läuft über mein Grab. So würde Glass einen Moment
der Vorahnung beschreiben. Ich empfinde es anders. Das
Gefühl gleicht entfernt dem Jucken meiner Narben bei einem
bevorstehenden Wetterwechsel. Ich kann nicht den Finger
darauf legen, es ist nur eine Ahnung, irgendein uralter Instinkt.
Aber in genau diesem Moment setzt sich etwas in Bewegung.
Es ist unwiderruflich und endgültig. Ich denke an eine Herde
galoppierender, wilder Tiere, unter deren scharfen Hufen
zerfetztes Gras und dunkle Erde auffliegt.
Phil, dringt eine Stimme in die Stille, »Phil?«
»Hm?«
»Was ist los?«
»Nichts.«
»Dann komm endlich. Gehen wir rein.« Kat entlässt mich aus
der Umarmung und zieht mich hinter sich her. Thomas und
Wolf sind verschwunden wie ein Spuk.
    EINE WOCHE SPÄTER, als ich eigentlich nicht mehr damit
rechne, dass Nicholas sich daran erinnert, fragt er, ob Glass ihn
noch immer kennen lernen möchte. Er kündigt sich für den
späten Nachmittag an, sobald er sein Training auf dem
Sportplatz beendet hat. Ich rufe Glass in der Kanzlei an und
bitte sie, rechtzeitig zu Hause zu sein.
    Nicholas trifft kurz vor ihr in Visible ein. Wir stehen noch in
der Eingangshalle, als Glass durch die Tür stürmt, auf
halbhohen Stöckelschuhen und in einem dieser
stocknüchternen, seriösen Sekretärinnenkostüme mit
schneeweißer Bluse, die sie abgrundtief hasst, auf die Tereza
aber unnachgiebig besteht. Ich sehe sofort, dass sie
Schreibarbeit mitgebracht hat, weniger an der bis zum Bersten
gefüllten Aktentasche unter ihrem Arm als an der ziellosen Art,
mit der Glass sich bewegt – ungefähr wie ein Eichhörnchen, das
vor lauter Loöchern in den Bäumen nicht entscheiden kann, wo
es seine Vorräte lagern soll.
    »Gebt mir eine Stunde, Darlings«, ruft sie uns entgegen,
»dann koche ich uns einen Tee, okay?«
Darlings. Womöglich sieht sie mich jetzt nur noch in diesem
unmöglichen Plural zweier zu glückseliger Einheit
verschmolzener Hälften, den sie selbst so sehr verabscheut. Sie
rauscht an uns vorbei und kramt dabei hektisch in der
Aktentasche.
»Mum!«
»Hm?«
»Darf ich dir Nicholas vorstellen? «
»Oh.« Glass bleibt abrupt stehen, macht eine Kehrtwendung
und streckt Nicholas ihre freie Hand entgegen. »Freut mich,
Nick. Tut mir Leid, aber ich hab heute eine Laufmasche oder
sowas im Gehirn.«
»Lassen Sie sich Zeit.«
»Ihr seid schrecklich förmlich in diesem Land!«, ruft sie im
Weiterklappern über die Schulter. »Nenn mich einfach Glass,
okay?«
Ich nutze die Zeit, um Nicholas durch Visible zu führen. Ich
hätte nie geglaubt, dass irgendetwas ihn sichtbar zu
beeindrucken oder zu überraschen vermag. Aber jetzt folgt er
mir wie ein kleiner Junge, der zum ersten Mal in seinem Leben
einen Rummelplatz besucht. Anders als Kat, die seinerzeit mit
der selbstverständlichen Arroganz eines Eroberers und ohne
nach links oder rechts zu sehen durch die Mauern gefegt war,
nähert Nicholas sich Visible beinahe ehrfürchtig. Er besteht
darauf, dass ich ihm jedes Detail zeige. Ich führe ihn überall
herum, lasse ihn jeden einzelnen Raum betreten, vom Keller bis
zum Dachboden, mit Ausnahme meines eigenen Zimmers und
der Zimmer von Dianne und Glass. Während ich ihm dies und
jenes zum Haus und seiner Geschichte erzähle, berührt Nicholas
die Wände, die Holzbalken und die abgegriffenen
Treppengeländer, studiert aufmerksam die überall angebrachten
Fotos von Stella, lauscht dem Knarren der ausgetretenen Dielen
unter unseren Füßen. Es gefällt mir, dass er sich so vorsichtig
bewegt, als wäre Visible ein schlafendes Wesen, das man nicht
wecken darf. In der Bibliothek bleibt er lange stehen, mustert
die hohen Regale und deren Inhalt, Diannes Herbarien, die
wenigen Bücher, die Stella, und die vielen, die Terezas Vater
hinterlassen hat. Am längsten ruht sein Blick auf dem in
zerschlissenem Rot gepolsterten Sessel, meinem Thron der
Geschichten.
Über die marode Freitreppe hinter der Bibliothek betreten wir
den Garten, wo hüfthohes, trockengelbes Gras sich unter dem
kühlen Herbstwind beugt und wogt wie Seetang und die Statuen
aus Sandstein in unerschütterlicher Ruhe Wache stehen. Wir
sehen am Haus

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