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Andreas Steinhofel

Andreas Steinhofel

Titel: Andreas Steinhofel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Mitte der Welt
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ist sowieso der einzige Ort, an dem sie gut aufgehoben sind.«
»Ich will auch eine Tunte sein!«
Ich ließ die Puppe sinken und drehte mich um. Dianne, die der
ganzen Aktion bisher wortlos, abwechselnd auf einem Stück
Kuchen oder ihren langen Haaren herumkauend, zugeschaut
und zugehört hatte, hatte sich an Glass gewandt.
Puppe und Pipi waren vergessen. In ihren dunklen Augen
brannte Neid, und ich gönnte ihn ihr von Herzen. Ich war ein
Held, ich war eine Tunte, und ich hatte Paleiko. Zur Heldin
konnte Dianne nicht mehr werden, weil der Fußball
verschwunden war. Es in den feierlichen Stand einer Tunte zu
bringen war ihre einzige Hoffnung, wenn sie ihre charakterlose
blonde Puppe gegen ein dunkles Wunder wie Paleiko
eintauschen wollte. Und von mir, das wusste sie, würde sie
Paleiko nicht kriegen. Sie hatte keinen Finger krumm gemacht,
um mich vor den Tests zu bewahren.
»Du kannst keine Tunte sein, Schätzchen«, versuchte Glass
sie abzuwimmeln.
»Warum?«
»Weil man dazu ein Mann sein muss.«
»Dann will ich ein Mann sein.«
»Dianne, sei nicht albern, das geht natürlich auch nicht.«
»Warum nicht?«
»Zu teuer«, sagte Tereza trocken. Dann warf sie sich,
kreischend vor Lachen, auf den Rücken.
»Siehst du, mein kleiner weißer Freund«, flüsterte Paleiko in
mein Ohr, »siehst du, so einfach geht das nicht. Der einzige
Held hier bist du.«
    KAT SCHWANKT. Sie hält mir die Innenflächen ihrer Hände
entgegen, sie leuchten weiß. »O Scheiße. Tut mir… tut mir Leid,
Phil.«
    Ich weiß nicht, was ich davon halten soll, dass Paleiko tot ist.
Er hat seit Jahren nicht mehr mit mir geredet. Verdammt, er hat
nie mit mir geredet, er war nur ein Spielzeug! Aber er war auch
Terezas Spielzeug, und das ist es, was den Anblick der über den
Boden verstreuten Scherben so schmerzhaft macht. Nachdem
sie ihn mir geschenkt hat – anvertraut, flüstert eine Stimme in
mir, sie hat mich dir nur anvertraut -, hat sie sich nie wieder
nach Paleiko erkundigt. Ich muss ihr nicht erzählen, was
passiert ist, es könnte ihr nur unnötig wehtun. Und eigene
Kinder, an die ich Paleiko weitergeben könnte, werde ich nie
haben.
    Sie hat mich dir nur anvertraut, und du hast nicht auf mich
aufgepasst.
Die Zeit ist völlig aus den Fugen. Aus dem Radio tönt
schmeichelnde Musik. Ich krieche über den Boden, weiche den
Teelichtern aus, von denen Hitze aufsteigt wie aus einem
Glutofen, und suche den rosaroten Stein, der in Paleikos Stirn
eingelassen war, suche ihn ewig, ewig, ewig. Er bleibt
unauffindbar, vielleicht ist er zwischen eine der Spalten im
Parkett gerutscht. Ich setze mich mit dem Rücken gegen die
Wand, neben Nicholas, der meiner Suche tatenlos zugesehen
hat, und kratze winzige Scherbenstücke aus meinen
Handflächen, Kat hat sich keinen Millimeter von der Stelle
bewegt.
»Hey.« Nicholas umarmt mich und zieht meinen Kopf an
seine Brust. »Nicht weinen, ja? Nicht weinen. Wir kleben ihn
einfach wieder zusammen.«
»Okay.«
»Ich hol eine Schaufel und einen Besen.«
»Okay.«
»Wir sammeln jede Scherbe ein, auch die kleinste.«
»Ist gut.«
»Und dann kleben wir ihn wieder zusammen.«
»Mhm.«
»Nicht weinen.«
»Kommt«, sagt Kat, »kommt.«
Sie zieht Nicholas und mich an den Händen vom Boden, legt
mir den Kopf auf die Schulter und umfasst Nicholas bei den
Hüften. Langsam, erst vorsichtig und schwankend, dann immer
sicherer, wiegen wir uns gemeinsam zur Musik, drängen wir
uns enger aneinander. Ich schließe die Augen, drehe mich,
drehe mich. Wo unsere Körper sich berühren, ist es ein Gefühl,
als stürze ich in ein offenes Feuer. Unter meinen Füßen
knirschen und splittern Scherben, wir werden die brennenden
Teelichter umstoßen, gleich wird das heiße Wachs sich über den
Boden ergießen, wir werden Visible in Brand stecken. Ich spüre
Lippen auf meinen Lippen, an meinem Hals, ganz sacht, ich
weiß ich nicht, wem sie gehören, Kat oder Nicholas oder
beiden.
    AM SONNTAG ERWACHE ICH um ein Uhr mittags mit
einem Gefühl im Kopf, als hätte mein Gehirn sich in die
Luftblase im Inneren einer hin- und herkippenden Wasserwaage
verwandelt. Ich stolpere aus dem Bett, reiße die Fenster auf und
sauge die mir entgegenschwappende kalte Luft ein. Die Welt
diesseits und jenseits des Flusses versteckt sich unter einem fein
gewobenen, glitzernden Tuch aus Raureif.
    Kat und Nicholas sind gegen drei Uhr morgens gegangen.
Mein Angebot, in Visible zu bleiben, haben beide abgelehnt,
und ich

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