Andreas Steinhofel
war zu müde, um Überzeugungsarbeit zu leisten. Ich
betrachte das Aluminiumgrau der Behältnisse von einhundert
ausgebrannten Teelichtern und die Scherben und Splitter, die
alles sind, was von Paleiko geblieben ist. Dann ziehe ich
Wollsocken an, gehe nach unten in die ungemütlich kalte Küche
und brühe starken Kaffee auf. Er ist so heiß, dass ich mir Lippen
und Zunge daran verbrenne, aber er bringt die Luftblase in der
Wasserwaage in ein erträgliches Gleichgewicht. Ich versuche
gar nicht erst, meinen Ofen oder den altersschwachen
Heizkessel im Badezimmer anzuwerfen. Stattdessen rufe ich
Tereza an, die sich freut, mich zu hören, die den ganzen
Nachmittag frei hat, weil Pascal für die heutige Eröffnung eines
Weihnachtsmarkts noch Bernsteinschmuck herstellen muss, und
die mich, wie ich insgeheim gehofft habe, zum Kaffeetrinken
einlädt. Paleikos Ableben erwähne ich mit keiner Silbe, und
dabei, so nehme ich mir vor, wird es auch bleiben. Doch schon
der Klang von Terezas Stimme genügt, um das schlechte
Gewissen, das sich bis jetzt in meinem schmerzenden
Hinterkopf versteckt gehalten hat, wie einen tollwütigen Hund
von der Kette und mit mir davonlaufen zu lassen. Nach dem
Telefonat kehre ich die Scherben zusammen und schütte sie in
den Mülleimer in der Küche. Es hätte keinen Zweck zu
versuchen, sie zusammenzufügen, es sind zu viele. Der rosa
Stein aus Paleikos Stirn bleibt unauffindbar. Irgendwann werde
ich gründlicher nach ihm suchen.
Sonntags fahren die Busse nur alle zwei Stunden. Ich stehe
fast dreißig Minuten zu früh am Marktplatz, der wie
ausgestorben in der glitzernden Kälte Hegt. Nur dann und wann
röhrt ein Auto vorbei, Menschen lassen sich kaum blicken.
Hinter zwei, drei Fenstern in den umgebenden Häusern flackern
bunte Lichterketten und glimmen Kerzen, mir fällt ein, dass
heute der erste Advent ist. Ich trete auf der Stelle und reibe mir
die Hände, um meinen Kreislauf in Gang zu halten. Ich werde
Tereza fragen, ob ich ihre Dusche, besser noch die Badewanne
benutzen darf. Selbst die beiden Soldaten auf dem
Marktbrunnen ducken sich unter der Kälte und sehen aus, als
könnten sie ihre mit Bajonetten bestückten Gewehre kaum noch
in den erfrorenen Händen halten. Händel hat mehr als einmal
versucht – in Leserbriefen an die Zeitung, bei Sitzungen des
Gemeinderates – darauf aufmerksam zu machen, dass eine
aufgeklärte Gesellschaft sich den Anachronismus, mit
bewaffneten, heroisch dreinblickenden Soldaten gegen den
Krieg zu mahnen, nicht leisten könne, fand aber, wie üblich,
kein Gehör. Er muss sich schrecklich unverstanden fühlen, ein
einsamer Rufer in der Wüste. Ich frage mich, was einen Mann
wie ihn in diese triste Kleinstadt am Ende der Welt verschlagen
hat. Vielleicht ein überentwickelter Missionstrieb.
Im Bus schließe ich die Augen, eingelullt von trockener
Wärme, in Gedanken bei der vergangenen Nacht. Ich tue Kat
Unrecht mit meiner Eifersucht, die vielleicht gar keine
Eifersucht ist, sondern bloßer Neid: Neid auf die unbefangene
Direktheit, mit der sie auf Menschen zugeht, die ich von ihr
gewohnt bin, für die ich sie bewundere und mag, an der es mir
selbst aber mangelt.
Scheiße.
Von der Bushaltestelle bis zu Tereza laufe ich fünf Minuten.
Die Straße mit den schönen Altbauten liegt ruhig und still.
Hinter den Fenstern brennen bedeutend mehr Kerzen,
elektrische und echte, als ich sie vorhin auf dem Marktplatz
gesehen habe. Im Treppenhaus dringt Weihnachtsmusik durch
eine Tür. Pascal öffnet auf mein Klingeln. Sie sieht aus wie
immer, mürrisch, zerzaust und nicht richtig wach.
»Gegrüßet seist du, Maria«, brummt sie. Sie tritt beiseite.
»Komm rein.«
Ich hänge meinen Mantel in die Garderobe und spähe durch
den Flur. »Wo ist Tereza?«
»Gegangen.«
Mein Herz sinkt. »Aber sie hat doch -«
»Sie lässt dir ausrichten, es täte ihr Leid, aber irgendein
wichtiger Klient hat angerufen, und fort war sie. Sie hat noch
versucht dich anzurufen, aber es war niemand zu Hause.«
Nein, ich war auf dem verdammten Marktplatz, wo ich mir in
der lausigen Kälte die Beine in den Bauch gestanden habe.
»Wenn du mit mir vorlieb nimmst, kannst du gern bleiben.
Allerdings muss ich arbeiten und«, Pascal sieht auf ihre Uhr, »in
spätestens einer Stunde verschwinden.«
»Ich weiß.«
»Bleibst du trotzdem auf einen Kaffee? Du siehst aus, als
könntest du einen brauchen.« Sie hat sich schon umgedreht und
in Richtung
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