Andreas Steinhofel
davonlief – ein rebellisches
schwarzes Schaf, dem, genau wie Stella, der Blick auf die Welt
nie weit genug sein konnte. Mit sechzehn Jahren heuerte Gable
im nächstgelegenen Hafen auf dem erstbesten Schiff an und
begründete so, ohne es zu wissen, die später von Glass
fortgeführte Tradition, vor auftretenden Problemen sein Heil in
der Flucht über das offene Meer zu suchen.
»Er ist Seefahrer, Darling.«
»Ist das so was wie ein Pirat?«
»Pirat, Handelsfahrer, Schmuggler, Fischer, Freibeuter… Er ist
ein bisschen was von allem.«
Ein Seefahrer also. Gables Äußeres liefert keinerlei Hinweis
darauf, dass er den größten Teil seines Lebens auf dem Meer
verbracht hat. In seinem grobflächigen Gesicht sucht man
vergebens nach Spuren, die ein solches Dasein angeblich in den
Zügen eines Seefahrers hinterlässt: Wetterhärte und gegerbte
Haut, dunkle Bräune, tief eingegrabene Falten. Sein stämmiger
Körper gleicht dem eines durchtrainierten, muskelbepackten
Athleten, hat aber nicht die manchmal damit einhergehende
Schwerfälligkeit, und seine kräftigen Hände sind trotz schwerer
Arbeit ohne jede Spur von Hornhaut. Als einzige äußerliche
Besonderheit fällt eine Narbe auf, die seinen linken Oberarm
entstellt und deren Anblick mich als Kind mit Angst erfüllt hat.
Die Narbe ist tief und groß, sie kriecht als verwuchertes
Gewebe rosig auf der darunter liegenden Haut. Früher kam es
mir oft so vor, als wäre sie auf ihre eigene Art lebendig, denn
von Mal zu Mal, da Gable uns besuchte, schien sich ihre Form
ein wenig verändert zu haben, als wäre sie eine Amöbe, die ihre
Pseudopodien mal in diese, dann in jene Richtung ausstreckte
und dabei millimeterweise wuchs.
Es ist nicht ungewöhnlich, dass Gable zwei- oder dreimal irn
Jahr in Visible auftaucht, oft genug unangemeldet. Er ist
ziemlich genau zehn Jahre älter als Glass, deshalb nehme ich an,
dass er in ihr so etwas wie eine kleine Schwester sieht, um die
man sich hin und wieder kümmern muss. Glass macht das
rasend. Gables regelmäßige Angebote, ihr Geld zu geben, lehnt
sie ebenso regelmäßig ab. Von Glass weiß ich auch, dass Gable
verheiratet gewesen ist und für kurze Zeit mit seiner Frau
irgendwo an der Westküste Amerikas gelebt hat. Irgendwann
wurde beides aufgelöst, Ehe und fester Wohnsitz. Der Name der
Frau ist Alexa, sie hat Gable etwa zu der Zeit verlassen, als
Dianne und ich auf der anderen Seite der Welt geboren wurden.
Alexa warf Gable seine Rastlosigkeit vor – das Meer zog ihn an
wie der Vollmond heulende Hunde – und, schlimmer noch, dass
er gefühlsmäßig einem Eisklotz glich. Vielleicht wären die
Dinge zwischen den beiden anders gelaufen, wenn Alexa ihren
Mann auf seinen Fahrten begleitet hätte.
Wann immer Gable uns besucht, bringt er Geschenke mit. Als
ich noch ein kleiner Junge war, versetzten mich diese
Mitbringsel zuerst in heillose Aufregung und dann in
regelrechtes Entzücken, denn sie entstammten der See. Zu
jedem Geschenk nannte Gable die beinahe unaussprechlichen
Namen ferner Strände und Inseln; es waren Namen, die wie
matt schimmernde Perlen über meine Zunge rollten, wenn ich
sie wiederholte: Tongatapu – eine schwarze, geheimnisvoll
glänzende, fächerartige Koralle. Semisopochnoi –
ausgetrocknete Seepferdchen mit braunen, festen kleinen
Leibern. Kiritimati – ein von uralten Muscheln überkrustetes
Stück Treibholz. Einmal war es die gigantische Schere eines
Krebses, leuchtend rot, wie mit Feuertropfen besprenkelt:
Nomoneas.
Dianne lehnte die Annahme dieser Kostbarkeiten kategorisch
ab. Sie konnte mit Gable nichts anfangen. Früher sah ich sie nie
näher als bis auf drei Meter an ihn herantreten, es war, als
umgebe ihn ein unsichtbares Kraftfeld, dessen Grenzen sie nicht
überschreiten wolle. Andererseits teilte Dianne mit Gable eine
merkwürdige Form von Verschlossenheit – beide konnten sich
unvermittelt aus einem Gespräch ausblenden und ganz in sich
selbst versinken, was mich schrecklich irritierte -, aber natürlich
war es genau diese Verschlossenheit, die meine Schwester und
Gable daran hinderte, aufeinander zuzugehen. Dianne blühte
wieder auf, sobald Gable uns verlassen hatte, und mehr als
einmal stritten wir uns dann um die von ihm zurückgelassenen
Schätze, für die sie bis zu seiner Abreise Desinteresse
geheuchelt hatte, die sie nun aber für sich beanspruchte.
Bei jedem seiner Besuche wird Gable nicht müde zu beteuern,
dies sei
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