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Andreas Steinhofel

Andreas Steinhofel

Titel: Andreas Steinhofel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Mitte der Welt
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Verschwendung von
Rohstoffen auffordern würde.«
    Dianne hatte, genau wie ich, der Unterhaltung ohne ein
Wimpernzucken gelauscht. Wir müssen unheimlich auf den
Polizisten gewirkt haben, wie wir regungslos nebeneinander am
Tisch saßen, keine Miene verzogen, praktisch unhörbar durch
die Nasen atmeten und so, alles in allem, den Eindruck
mordbereiter Wachsfiguren vermittelten. Vor uns auf dem Tisch
stand Rosella. Mit ihrer gutmütigen Schnauze, dem fehlenden
linken Ohr und den großen Augen war sie der einzig neutrale
Blickfang, der sich dem verwirrten Beamten während der
Befragung bot, doch selbst dieses harmlose Sparschwein starrte
er an, als erwartete er, dass jeden Moment Reißzähne aus dem
rosigen Porzellan wuchsen.
    Als Assmann Visible schließlich verließ, glich das einer
Flucht; er schwankte und stolperte die Auffahrt hinunter und
verschwand im rostroten Sonnenuntergang wie ein einsamer
betrunkener Sheriff in einem alten Technicolorfilm. Von seinem
Tee hatte er keinen Schluck getrunken. Ich erzählte Dianne nie,
dass ich Wochen später, auf der Suche nach Flickzeug für mein
Fahrrad, eine Sprühdose mit giftgrünem Deckel im
Holzschuppen hinter dem Haus fand, aber ich war mächtig stolz
auf sie.
    Was Irene anging, so fiel sie, einer verqueren männlichen
Logik folgend, die das Opfer kurzerhand zur Täterin erhob, in
Ungnade, und damit wurde sie zu einem Fall für Glass. Früher
oder später wurde jede unglückliche Frau aus der Stadt oder der
näheren Umgebung, die sich keinen teuren Psychiater oder
billigen Liebhaber leisten konnte, ein Fall für Glass.
    »Ist wie eine Lebensversicherung, Darling«, hat Glass mir
einmal erklärt. »Solange sie Angst davor haben, ich könnte ihre
kleinen Geheimnisse ausplaudern, fressen mir die Jenseitigen
aus der Hand.«
    Sie nennt die Bewohner der Stadt die Jenseitigen, weil sie auf
der gegenüberliegenden Seite des Flusses leben. Für mich sind
sie die Kleinen Leute – eine Bezeichnung, die noch aus meinen
Kindertagen stammt, als ich mir Menschen, die mich ängstigten,
als winzige, leblose Puppen vorzustellen pflegte.
    Wir haben nie ein gutes Verhältnis zu den Kleinen Leuten
gehabt. Wer nicht aus einer der alteingesessenen Familien
stammt, wird von den Stadtbewohnern mit einem Misstrauen
behandelt, das Generationen überdauern kann. Glass jedoch
hatte von jeher gegen mehr als bloßes Misstrauen anzutreten.
Nachdem sie damit begonnen hatte, in unregelmäßigen
Abstanden Männer von außerhalb nach Visible mitzubringen,
und weil sie aus ihren rasch wechselnden Liebschaften keinen
Hehl machte, schlug ihr von allen Seiten offene Abneigung
entgegen. Sie erhielt hässliche Briefe und obszöne Anrufe.
Einmal wurde ihr, als sie zum Einkaufen in die Stadt gefahren
war, der Lack ihres Wagens zerkratzt. Sie hatte sich nur für
zehn Minuten in einem Laden aufgehalten; als sie wieder
herauskam, war in die Fahrertür, groß und gut lesbar, das Wort
Huhre geritzt worden. Glass klebte ein Pappschild unter die
Kratzspuren, auf dem in dicken schwarzen Lettern stand: Hure
schreibt sich mit nur einem H, und fuhr damit eine Stunde lang
durch jede Straße der Stadt, den rechten Fuß hart auf dem
Gaspedal, laut hupend, Mord in den Augen. Erst später, als der
Kreis sich schloss – als Glass damit begann, die
Lebensweisheiten, die sie zu einem guten Teil ihren
Männergeschichten verdankte, ihren vom Schicksal oder von
jähzornigen Ehemännern gebeutelten Kundinnen zu verkaufen , wurde ihr eine Art zähneknirschender Toleranz zuteil. Die
Anrufe und Briefe wurden weniger, schließlich blieben sie ganz
aus. Doch nach wie vor wäre es niemandem eingefallen, sie in
den Vorbereitungsausschuss des alljährlich mit großem Tamtam
begangenen Stadtfestes zu berufen oder ihr einen Posten als
Vorsitzende im örtlichen Rosenzüchterverein anzubieten.
    Dianne und ich blieben von Anfeindungen lange verschont.
Für die Jenseitigen waren wir bedauernswerte kleine Geschöpfe,
die das Pech gehabt hatten, von einer zu jungen, völlig
verantwortungslosen Mutter in die Welt gesetzt worden zu sein.
Aber wir gehörten nicht in ihre Welt – nicht, weil wir nicht
bewusst dazugehören wollten, sondern weil wir fühlten, dass
wir anders waren. Ich hätte nicht einmal sagen können, woran
das lag, ob an angeborener Arroganz, anerzogener Abneigung,
einer tief verborgenen Unsicherheit oder an einer Kombination
all dieser Dinge. Tatsache war, dass wir uns von

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