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Andreas Steinhofel

Andreas Steinhofel

Titel: Andreas Steinhofel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Mitte der Welt
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das letzte Mal, dass er an Land gegangen sei, wo er sich
unwohl fühle und nicht zurechtfinde. Als Kind beneidete ich ihn
um sein Erwachsensein. Sein Zuhause waren die Meere und
Ozeane. Er orientierte sich an den Sternen und an der Art, wie
die Wellen sich unter einem Wind kräuseln, der nur an einer
bestimmten Stelle der Welt weht, an fremden Gerüchen und an
den wechselnden Farben des Wassers: aufleuchtendes Blau und
Türkis, die nahes Land versprechen; ein Schimmern wie von
schwarzgrüner Tinte, wo unterseeische Gebirge in nicht
auszulotende Tiefen abfallen.
    »Nimmst du mich mit?«, bettelte ich regelmäßig.
»Irgendwann, Phil. Wenn Glass es erlaubt.«
Glass hat Dianne und mich zweisprachig aufgezogen, doch
    mit Gable musste ich nicht englisch reden. Er beherrscht mehr
Sprachen, als es Weltmeere gibt, und tief wie ein Ozean war
auch seine Stimme.
    Abends nahm ich Paleiko mit in mein Bett. Unmittelbar
nachdem Tereza mir den Puppenmann aus schwarzem Porzellan
geschenkt hatte, war ihr Versprechen in Erfüllung gegangen: Er
sprach mit mir. Allerdings hatte Tereza mich nicht davor
gewarnt, dass Paleiko ohne Unterlass reden konnte, zu allem
eine Meinung hatte und mich mit gut gemeinten Ratschlägen
bombardieren würde, die oft genauso unverständlich waren wie
die Antworten auf an ihn gerichtete Fragen.
    »Wann erlaubt mir Glass, mit Gable zu fahren?«, flüsterte ich.
In Paleikos Stirn war ein rosiger Stein eingebettet, ein kleiner
Kristallsplitter. Ich glaubte ihn aufleuchten zu sehen, als der
porzellankalte Puppenmann antwortete: »Wenn du so weit bist,
mein kleiner weißer Freund. Wenn du so weit bist.«
    Ich erkor Gable zu dem Vater, den ich mir immer gewünscht
hatte, einem Vater, der mich nicht nur tröstend oder
beschützend in die Arme nahm, sondern der noch dazu ein
Leben von schillernder Exotik führte und mit dem man
Abenteuer bestand, gegen die selbst meine kühnsten Träume
verblassten. Besonders versessen war ich auf Gables
Erzählungen. Wenn er von seinen Seefahrten berichtete, wurde
das Meer für mich lebendig. Dann spürte ich das Schlingern des
Schiffes unter den Füßen, fühlte die Sonne meine Haut
verbrennen oder wurde von dunklen Stürmen geschüttelt, die so
gewaltig waren, dass sie den Himmel zerreißen konnten, als
wäre er ein dünnes Seidentuch. Wenn Gable wieder gegangen
war, war ich tagelang unglücklich, und ruhelos, streichelte die
von ihm zurückgelassenen Korallen, leckte mit geschlossenen
Augen das Salz von den vertrockneten Seepferdchen und gab
mich Tagträumen hin, in denen ich Gable auf seinen Reisen
begleitete. Und wann immer ich Glass fragte, wann sie mir
endlich die Erlaubnis dazu erteilen würde, lauschte sie für einen
Moment in sich hinein, bevor sie antwortete: »Noch nicht.«
DIE SCHLACHT AM GROSSEN AUGE
    IM SOMMER VERWANDELT SICH Visibles Küche in die
Unterwasserwelt eines Aquariums. Der von außen gegen die
Fenster drückende Efeu färbt das einfallende Licht grün, so dass
man unwillkürlich tief Luft holt, wenn man den Raum betritt.
    Glass steht am Herd, wo sie hektisch mit einer Pfanne
herumhantiert. Die Luft riecht nach angebranntem Speck und
Rührei. Ich sehe nur ihren Rücken und die nachlässig nach oben
gesteckten, blonden Haare.
»Was machst du da?«
    »Wonach sieht es aus, was meinst du? Erster Schultag nach
den Ferien. Ich versuche, eine gute Mutter zu sein.«
»Siebzehn Jahre zu spät.«
»Vielen Dank, Darling.« Sie dreht sich zu mir um. »Kommt
Dianne auch frühstücken? Will sie auch Rührei oder was –
Müsli?«
»Sie hat noch nie Rührei gegessen.« Ich setze mich an den
massiven alten Holztisch, der das Zentrum der Küche einnimmt.
»Und auch kein Müsli. Ich hab keine Ahnung, wovon sie sich
ernährt, wahrscheinlich von gar nichts.«
»Das kommt vom Fernsehen.« Glass kratzt den Inhalt der
Pfanne auf einen Teller. »In den US-Serien wimmelt es nur so
von abgemagerten Weibern, die alle unter achtzig Pfund
wiegen, und davon fällt noch mindestens die Hälfte auf ihre
Silikontitten! Manchmal denke ich, ganz Kalifornien macht
Werbung für Magersucht.«
»Glass, du siehst dir diese Serien an, nicht Dianne.«
»Dann sollte sie es tun, zur Abschreckung.« Der Teller wird
unter meine Nase geschoben. »Ich meine, sie ist wahnsinnig
dünn, findest du nicht?«
»Wie soll man das beurteilen, bei den Klamotten, die sie
trägt.«
Glass nimmt mir gegenüber Platz. Sie selbst frühstückt erst im
Büro, zu

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