Andreas Steinhofel
bedecken gilt. »Mach schon, verpiss dich!«
DIE SCHLACHT AM GROSSEN AUGE fand an einem
strahlend hellen Sommertag statt, unweit jener Stelle am Fluss,
an der Glass drei Jahre zuvor entschieden hatte, dass etwas mit
meinen abstehenden Ohren geschehen müsse.
Dianne und ich waren seit Stunden unterwegs, wir hatten die
bedrückende Atmosphäre Visibles gegen das offene Land und
den freien Himmel eingetauscht. Glass musste längst zu Hause
sein, doch bis zum Einbruch der Dunkelheit würde sie uns nicht
vermissen. Das Korn auf den Feldern stand hoch und gelb, der
süße Duft frisch gemähten Heus wurde überlagert von den
leicht modrigen, nach vertrocknenden Algen riechenden
Ausdünstungen des nahen Flusses.
»Am Großen Auge«, sagte Dianne, »gibt es Forellen.«
»Und? Das weiß doch jeder.«
Das Große Auge lag etwa einen Kilometer flussabwärts von
Visible. Der Name klang imposant, dabei bezeichneten wir
damit nicht mehr als das Austrittsrohr eines vor langer Zeit
begradigten, unterirdisch verlaufenden Baches, das noch dazu
eher einem weit aufgerissenen runden Mund als einem Auge
glich.
»Wir könnten eine fangen.«
»Womit denn? Etwa damit?« Ich zeigte auf den Bogen aus
poliertem Holz, den Dianne trug, und auf den dazugehörigen
Pfeil, den einzigen, den sie besaß – ein glatter Zweig mit scharf
zulaufender Spitze ohne Widerhaken.
»Ich kann damit schießen«, sagte sie beleidigt. »Ich hab
geübt.«
Der Bogen war das Geschenk eines Mannes namens Kyle, den
Glass im Frühsommer mitgebracht hatte. Sein kantiges, von
tiefblauen Augen beherrschtes Gesicht war mir unvergesslich
geblieben, weil Kyle mehr für Dianne und mich übrig gehabt
hatte als das kurze, unverbindliche Streicheln über die Haare,
mit dem die meisten Liebhaber unserer Mutter von uns Notiz
nahmen. Außerdem war er Engländer; Glass hatte etwas davon
gemurmelt, er sei Angehöriger der britischen Alliierten und aus
der Armee desertiert. Wir fanden das wildromantisch.
Kyle kam mit einem olivgrünen Rucksack und blieb fast vier
Wochen in Visible. Lange genug für Dianne und mich, um uns
an ihn zu gewöhnen; zu lange für Glass, die schließlich die
Notbremse zog. Sie hatte kein Interesse an einer dauerhaften
Beziehung.
Eines Abends, Glass war noch nicht von der Arbeit zurück,
saßen wir auf der Veranda, Kyle in einem von der Sonne
ausgebleichten Korbstuhl, Dianne und ich zu seinen Füßen. Die
Luft war frisch und erfüllt vom Zirpen erster, schüchterner
Grillen. Kyle hatte einen Ast aus einer Esche hinter dem Haus
geschlagen, über dessen Rinde er jetzt die Klinge seines
Armeemessers gleiten ließ. Er besaß auffallend schöne Hände
mit langen, kräftigen Fingern.
»Eschenholz«, sagte Kyle, »ist etwas, das hält. Das hat dieses
Haus bitter nötig – das Haus, ihr, eure Mutter.« Zu seinen Füßen
begann sich ein Häufchen feiner, nassgrüner Späne zu sammeln.
»Stabilität, versteht ihr? Etwas, das hält.«
Ich schenkte seinen Worten kaum Beachtung. Ich verfolgte
den Flug der Rindenspäne und die Bewegungen der schlanken
Finger, die das Messer führten wie ein sensibles chirurgisches
Instrument.
»Etwas, das hält«, wiederholte Dianne ernst.
Kyle nickte und arbeitete wortlos weiter. Schließlich rieb er
den nackten Ast mit einem Stück Tuch sorgfältig trocken, ritzte
ihn am oberen und unteren Ende rundum ein und spannte ihn
mit einer dünnen, ledrigen Sehne, die er aus seinem schier
unerschöpflichen Rucksack kramte. »Wer will ihn haben?«,
fragte er. »Phil?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Dianne?«
Sie nickte und nahm den Bogen andächtig entgegen. Ihre
großen Augen leuchteten voller Bewunderung sowohl für die
Waffe als auch für den Mann, der sie geschaffen hatte.
»Morgen«, versprach Kyle, »schnitze ich dir dazu den
passenden Pfeil.«
Zu Diannes übergroßer Enttäuschung kam er nicht mehr dazu,
sein Versprechen einzulösen. In der folgenden Nacht hörten wir
Glass und Kyle lautstark streiten, Türen schlugen wütend auf
und wieder zu. Am Morgen darauf waren der Bogenmacher mit
den schönen Händen und sein grüner Rucksack verschwunden.
Kyle hatte jedoch ein Abschiedsgeschenk zurückgelassen – sein
Armeemesser – und in den nächsten Tagen war von Dianne
nicht viel zu sehen. Sie hatte sich auf die Suche nach einem
würdigen Pfeil für ihren Bogen begeben, und irgendwann wurde
sie fündig.
»Wo hast du geübt?«, fragte ich sie jetzt.
Sie machte eine weit ausholende
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