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Andreas Steinhofel

Andreas Steinhofel

Titel: Andreas Steinhofel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Mitte der Welt
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rabenschwarzen – wie ich annehme gefärbten – Haare trägt
Hebeler streng nach hinten gekämmt und im Nacken
zusammengeknotet, eine Frisur für die Ewigkeit. Frau Hebeler
zeichnet dafür verantwortlich, dass ich nicht an die Existenz
glückselig machender, Zufriedenheit auslösender Hormone
glaube; falls ihr verkniffener Mund je ein Lächeln zustande
gebracht hat, ist mir das entgangen. Meist öffnen sich die
schmalen Lippen nur, um einem der sich selten hierher
verirrenden neuen Leser klarzumachen, dass er lediglich ein
geduldeter Besucher ist, der zurückgebrachte Bücher
selbständig in die Regale einzuordnen und bei einer
Überschreitung der Verleihfrist mit sofortiger und qualvoller
Exekution zu rechnen hat. Hebeler ist die selbst ernannte
Schutzpatronin von Prosa und Lyrik, nur das gibt ihr Substanz.
Ich kenne niemanden, der so sehr von seiner eigenen
Unwichtigkeit überzeugt sein könnte, wie sie es ist.
    Jemand bewegt sich zwischen den Regalen, als ich die
Bücherei betrete. Das ist ungewohnt genug. Hebelers Arbeit
besteht zu einem guten Teil im geduldigen Warten auf
Kundschaft – als Kind habe ich sie oft vorsichtig gemustert um
festzustellen, ob sie bereits Staub ansetzte. Noch ungewohnter
ist, dass die Bibliothekarin heute trotz meiner verspäteten
Rückgabe der Bücher nicht ausfällig wird. Ich leiere eine
Entschuldigung herunter, während sie einen prüfenden Blick auf
meine Karteikarte wirft, doch sie winkt ab, bevor ich den Satz
beenden kann.
    »Ist ja nicht so, als würde jemand die Bücher wirklich
vermissen, was?«, sagt sie wohlwollend.
Und sie lächelt. Hebeler lächelt! Routiniert, aber mit einem
Schwung, den ich von ihr nicht kenne, klatscht sie den
Rückgabestempel auf meine Karteikarte und schiebt den Stapel
Bücher achtlos an den Rand des Tresens. Dann sieht sie lauernd
darüber hinweg, geradewegs an mir vorbei.
Als ich mich neugierig umdrehe, sehe ich Nicholas zwischen
den Regalreihen hervortreten. Jeder Tropfen Blut, den ich
besitze, scheint ohne Umwege in mein Herz zu strömen. Was
auch immer sich dabei, neben dem schlagartigen Auftritt
tödlicher Blässe, in meinem Gesicht abspielt, bringt den Läufer
zum Lächeln.
»Tag, Phil.«
»Hallo«, erwidere ich.
Was für ein Fegefeuer von etwa zehn Sekunden Dauer alles
ist, was ich hervorzubringen vermag. Ich weiß nicht, ob ich über
ihn hinwegsehen, ihm die Hand geben oder einfach schreiend
davonlaufen soll. Er selbst wirkt völlig gefasst – warum auch
nicht -, ein Standbild der Gelassenheit mit beunruhigend
wachen, dunklen Augen.
»Hey«, sagt er endlich, »komme ich eigentlich öfter hierher?«
Im Nachhinein halte ich das für die größte Offensive seit
General Cluster und der Schlacht am Little Big Horn. Trotzdem
muss ich lachen. Für einen Moment fühle ich mich wohler und
beschließe, auf sein Spiel einzugehen.
»Und, kommst du?«, frage ich.
»Komme ich?« Jetzt wendet Nicholas sein Lächeln Frau
Hebeler zu. »Zumindest in den nächsten drei Wochen, in denen
ich diese hübsche junge Dame vertrete, während sie Urlaub
macht, wo war das noch, Frau Hebeler?«
Über die Wangen der Bibliothekarin jagen hektische rosige
Flecken wie Wanderdünen auf der Flucht vor einer
anbrandenden Sturmflut. Sie murmelt etwas, das sich anhört wie
Ananarea.
»Schön«, erwidert Nicholas, »sehr schön, da war ich auch
mal. Das wird Ihnen gefallen.«
Hebeler nickt. Nickt und schluckt und strafft, wohl eher
unbewusst, den Oberkörper, wie um Nicholas einen besseren
Blick auf ihre Brüste zu gestatten, von denen ich, obwohl ich
Hebeler seit Jahren kenne, nun zum ersten Mal nicht nur
bemerke, dass sie überhaupt welche besitzt, sondern dass sie für
eine so zierliche Frau auch unverhältnismäßig üppig ausgefallen
sind. In ihrer verlegenen Hilflosigkeit tut sie mir beinahe leid.
Nur muss ich, unter den nächsten Worten des Läufers, plötzlich
all mein Mitgefühl für mich selbst aufbringen.
»Wo warst du letzte Woche?«
»Letzte Woche?«
»Und die davor. Donnerstags. Auf dem Sportplatz.« Nicholas
greift angelegentlich nach einem der Bücher, die ich
zurückgebracht habe, schlägt es auf und blättert aufs
Geratewohl darin herum. »Hab dich vermisst.«
Jetzt schießt mir alles zuvor entwichene Blut, als würde ein
Bunsenbrenner unter mein Herz gehalten, zurück in den Kopf.
Nicholas muss bemerken, wie ich rot anlaufe. Vermisst?
»Ich hab da… nur so gesessen«, unternehme ich den lahmen

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