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Andreas Steinhofel

Andreas Steinhofel

Titel: Andreas Steinhofel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Mitte der Welt
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zu müssen, studiert Glass das
Etikett auf der Konservendose, als hinge ihr Überleben davon
ab. Unter anderen Umständen würde ich vermuten, dass sie
gerade überlegt, wie man es schafft, ganze Maiskolben in solch
kleine Büchsen zu verpacken.
»Glass?«
»Hm?«
»Nimm es mir nicht übel, aber…«
Jetzt sieht sie auf. »Ja?«
»Du kannst überhaupt nicht kochen! Wenn du diesem Michael
imponieren willst, solltest du besser etwas aus der Tiefkühltruhe
mitnehmen und ansonsten Geld in einen neuen Lippenstift
investieren.«
»Wofür brauchst du einen neuen Lippenstift?«
»Sehr witzig, Mum!«
»Mum mich nicht an, du weißt, wie sehr ich das hasse.« Sie
grinst und stellt, offensichtlich erleichtert, den Mais ins Regal
zurück. »Gott, du hast ja Recht. Ich nehme was aus der Truhe.
Tu mir einen Gefallen, bring den blöden Fisch zurück, okay?«
Ich laufe eilig zur Fleischtheke, wo ich den Fisch einer
verärgerten Verkäuferin aushändige. Langsam werde ich
unruhig. Glass hat mir versprochen, mich nach dem Einkaufen
zur Stadtbücherei zu fahren, wo ich einen Stapel Romane
abliefern will, die ich während der Sommerferien gelesen habe.
Die Ausleihfrist ist gerade abgelaufen; ich werde Strafe zahlen
müssen.
In der Abteilung mit Tiefkühlkost wühlt Glass in einer Truhe
herum. Nach einer Minute beginne ich, mir ernsthaft Sorgen um
ihre Hände zu machen.
»Du wirst Frostbeulen kriegen, wenn du dich nicht bald für
etwas entscheidest.«
»Was hältst du von Cannelloni?«
»Nicht schlecht, die passen zum Wein. Du solltest Salat dazu
machen, es gibt fertiges Dressing aus der Flasche und -«
Glass schießt nach oben wie ein Springteufel. Ein Wirbel
gefrorener, dampfender Luft tanzt ihr nach. »Phil, ich weiß
deine Besorgnis wirklich zu schätzen! Aber ob ich eine gute
Köchin bin oder nicht, dürfte kaum etwas daran ändern, dass
Michael mich mag, okay?«
»Warum sagst du das mir? Du bist diejenige, die unbedingt
kochen wollte. Nur weil du nervös bist -«
»Ich bin nicht nervös! Es gibt Cannelloni, ohne irgendwelchen
Schnickschnack, und damit basta!«
»Klingt nicht gerade nach einem Festmahl.«
»Michael soll sich auf mich konzentrieren, und nicht auf das
Essen! Wenn er sich für Nudelrollen zu fein ist, kann er
entweder mich zum Essen einladen oder sich selbst zum Teufel
scheren.«
Dort sind bis jetzt alle ihre Liebhaber gelandet.
So gefällt Glass mir wesentlich besser; nicht weil ich etwas
dagegen habe, dass sie sich mit Michael oder irgendeinem
anderen Mann trifft, sondern weil ich es nicht ertragen kann, sie
durch einen Mann verunsichert zu sehen, und sei es nur durch
die Frage, ob sie für ihn kochen soll oder nicht. Es passt nicht
zu Glass – genauer gesagt, passt es nicht zu dem Bild, das ich
von ihr habe.
»Würde es dir etwas ausmachen«, sagt sie etwas weicher,
»dich heute Abend in der Nähe aufzuhalten? Dir Michael mal
anzusehen und so?«
»Du willst wissen, was ich von ihm halte?«
»Genau.«
Ich zucke die Achseln. »Wenn ich dir einen Gefallen damit
tue.«
»Tust du.« Glass beugt sich erneut über die Truhe, taucht fast
hinein. »Was ist in richtigen Cannelloni drin, Gemüse oder
Fleisch? Die haben beides hier.«
»Fleisch… Hackfleisch.« Ich betrachte ihren Rücken und
knabbere dabei auf der Unterlippe. »Bin gespannt, was Dianne
dazu sagen wird, dass du Michael eingeladen hast.«
»Das ist mir, offen gestanden, scheißegal.«
Ihre Stimme kommt direkt aus der Tiefkühltruhe. Bei der
Kälte, die aus dem letzten Satz spricht, erscheint mir das nur
angemessen.
»Denkst du dran, dass ich noch zur Bücherei muss?«
»Ich denke an nichts anderes, Darling«, tönt es aus der Truhe.
»Diese kleinen weißen Dinger hier – ist das Broccoli, oder
was?«
    GLASS SETZT MICH vor dem Rathaus ab. Die Bücherei ist
in einem Seitenflügel des Gebäudes untergebracht. Eigentlich
besteht sie nur aus einem einzelnen großen, aus irgendwelchen
Gründen immer unbelüfteten Raum, der das Prädikat Bücherei
nicht verdient. Die Lesebestände rekrutieren sich allesamt aus
abgegriffenen Romanen und Sachbüchern und aus zerfledderten
Bildbänden, deren Seiten schon lange vor meiner Geburt
vergilbt gewesen sein müssen.
    Herrscherin über die Stadtbibliothek ist, seit ich mich erinnern
kann, Frau Hebeler. Sie ist ein spitzwangiges, merkwürdig
transparentes Geschöpf, das beinahe so ausgeblichen ist wie die
auf wackligen Regalen gegeneinander drängenden Buchrücken.
Ihre

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