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Andreas Steinhofel

Andreas Steinhofel

Titel: Andreas Steinhofel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Mitte der Welt
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es Dianne hinzieht, wenn
sie nachts Visible verlässt.
»Vielleicht ist es genetisch«, murmele ich.
Die beiden unterhalten sich. Es sieht nicht so aus, als handele
es sich dabei um eine Unterhaltung der entspannten Art: Die
Blonde redet ununterbrochen auf Dianne ein, sie gestikuliert
dabei aufgebracht mit den Händen, ihr Kopf ruckt vor und
zurück wie der eines Raubvogels; meine Schwester, mit
zusammengebissenen Lippen, schüttelt von Zeit zu Zeit nur
stoisch den Kopf.
Der Bus kommt. Ich sehe Dianne einsteigen und das blonde
Mädchen langsam davonschlendern, mir entgegen. Hastig
drücke ich mich um die nächste Straßenecke. Ich überlege, ob
Dianne zu Tereza fährt, ob ich Pascal noch einmal anrufen soll,
um sie zu fragen, ob meine Schwester sich angekündigt hat.
Dann verwerfe ich den Gedanken wieder. Wenn es so wäre,
hätte Pascal mir das sicher schon während unseres Gesprächs
gesagt. Ich zucke die Achseln. Es gibt wichtigere Dinge. Meine
rechte Hand, die der Läufer berührt hat, brennt wie Feuer. Ich
habe keine Ahnung, wie ich die Zeit bis übermorgen überstehen
soll.
    MICHAEL IST MIR auf Anhieb sympathisch. Das Erste, was
mir an ihm auffällt und mich überrascht, ist sein Alter. Ich
schätze ihn auf Anfang fünfzig, damit wäre er fast zwanzig
Jahre älter als Glass. Na ja, fünfzehn. Sein Haar beginnt sich
bereits zu lichten, an den Schläfen ist es ergraut. Zu
verwaschenen Jeans trägt er ein blütenweißes Hemd, am linken
Handgelenk blitzt eine altmodische Uhr. Er wirkt lässig, elegant
und trotz seines eher saloppen Äußeren so seriös wie eine
Aktentasche aus teuerstem Leder. Als ich ihn nach seinem
Beruf frage, grinst er fast verlegen.
    »Hat Glass das nicht gesagt?«
»Nein.«
»Niemand hat mich gefragt«, wirft Glass ein.
Die leicht vorwurfsvolle Bemerkung gilt sowohl mir als auch
    Dianne, die sich zu uns gesellt hat. Dass Glass sie ebenfalls um
ihre Anwesenheit gebeten hat, wundert mich mindestens
genauso wie die Tatsache, dass Dianne dieser Bitte
nachgekommen ist.
    »Ich bin Anwalt«, erklärt Michael. Seine Stimme ist so tief
und resonant, dass ich mir einbilde, das Weinglas zwischen
meinen Händen schwingen zu fühlen. Er hat ein schmales,
markantes Gesicht, wie einer dieser Typen aus der
Fernsehwerbung, die ihr Kinn für Doppelklingenrasierer in die
Kamera halten.
    Ich muss grinsen. »Ein Anwalt, der einen Anwalt braucht?«
»Was?«, fragt Dianne ratlos.
»So haben wir uns kennen gelernt«, erklärt Michael. »Im
    Frühjahr habe ich mich von einem Klienten übers Ohr hauen
lassen, und plötzlich steckte ich bis zum Hals in… nun, in einer
unangenehmen Sache. Die Details sind langweilig. Jedenfalls
geriet ich so an Tereza. Und an eure Mutter.«
    Mit einem Lächeln, das allen und keinem gilt, schiebt er seine
Uhr am Handgelenk auf und ab. Er sieht Glass an. Er weiß es
vielleicht noch nicht, aber er ist rettungslos verloren.
    Amüsiert stelle ich fest, dass es Glass kaum besser ergeht. Sie
schießt durch die Küche wie ein Huhn ohne Kopf, rückt Teller
und Bestecke zurecht, füllt Wein in auf Hochglanz polierte
Gläser, und dabei plappert sie ununterbrochen und raucht wie
ein Schlot. Es ist rührend zu sehen, wie sehr sie sich abmüht um
Michael zu gefallen, aber sie macht mich damit höllisch nervös
– falls ich mich bei der Verabredung mit Nicholas ähnlich
panisch anstelle, wird er vermutlich bereuen, mich je
angesprochen zu haben. Schließlich bringt Michael Glass zur
Ruhe, indem er sie, nachdem sie die tiefgefrorenen Cannelloni
in den Ofen geschoben hat und einmal mehr an ihm
vorüberhastet, kurzerhand schnappt, sie auf seinen Schoß
pflanzt und ihr den Nacken massiert.
    »Verspannt?«, fragt er.
»Ja, aber weiter unten.«
Es ist der einzige Moment, in dem ich zusammenzucke. Nur
    Michaels Lachen, gepaart mit einem aufrichtig verständnislosen
Blick von Glass, rettet die Situation. Dianne, die bereits ihr
Weinglas abgesetzt hat und in deren Gesicht alle Zeichen auf
Flucht stehen, entspannt sich wieder und entschließt sich zu
einem Grinsen. Als Michael seine Hände pflichtschuldig von
Glass’ Nacken zu ihren Schulterblättern herabwandern lässt,
frage ich mich, ob er von der Existenz seiner Vorgänger weiß,
und wenn ja, wie er mit diesem Wissen zurechtkommt.
    »Hättest du Salat gewollt?«, fragt Glass mit geschlossenen
Augen. »Ich meine, es gibt keinen, weil ich nicht gewusst hatte,
wie man Dressing oder so was macht.«
»Man

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