Andreas Steinhofel
dabei zu sein. Nicht
beim Essen, meine ich, also…«
Ich beiße mir auf die Unterlippe. Glass wird mich teeren und
federn, wenn sie erfährt, dass ich Pascal Details aus ihrem
Privatleben verrate. Zwischen den beiden Frauen besteht ein
Waffenstillstand, der umso sensibler ist, als ihm nie ein offener
Krieg vorausgegangen ist. Pascal weiß, dass Tereza lange in
meine Mutter verliebt war. Es ist für sie von untergeordneter
Bedeutung, dass seitdem viele Jahre vergangen sind. Nach
allem, was ich von Tereza über ihre Freundin weiß, scheint
Pascals Eifersucht keine Zeit zu kennen oder sie langsamer zu
messen.
»Ich weiß Bescheid über das Essen«, gibt sie zu meiner
Überraschung zurück. »Glass hat mich nach einem Rezept für
ein Fischgericht gefragt.«
»Sie hat dich…? Hey, das sollte mir wohl die Sprache
verschlagen, oder?«
»Pass lieber auf, dass es dir nicht den Appetit verschlägt.
Glass kann nicht kochen. Genauso wenig, wie sie eine feste
Bindung eingehen kann«, fährt Pascal nüchtern fort. »An deiner
Stelle würde ich der Sache keine große Bedeutung beimessen.«
»Ich glaube, ernster war es Glass noch nie.«
»Falsche Steigerung, Phil – ernster könnte deiner Mutter die
Angelegenheit nur sein, wenn ihr je etwas ernst gewesen wäre.«
Tereza hat einmal erklärt, Aufrichtigkeit und Offenheit seien
Qualitäten, die ihr in ihrem Beruf als Anwältin nur selten
begegnen. Pascal schenkt ihr seit nahezu fünf Jahren beides. Es
ist einer der tausend Gründe, aus denen Tereza sie so sehr liebt.
Im Gegensatz zu Glass, die einmal unterstellt hat, Terezas
Freundin würde erst dann den Mund aufmachen, wenn sie
vorher abgewogen hat, wie viel Schaden sie mit ihren Worten
anrichten kann, mag ich Pascals Geradlinigkeit. Jedenfalls
meistens.
»Pass auf dich auf, Phil«, sagt sie jetzt.
»Wobei?«
»Beim Abendessen.«
»Glass ist auf Tiefkühlkost ausgewichen. Die Gefahr, an einer
Fischgräte zu ersticken, ist damit gleich null.«
»Das meine ich nicht.«
»Sondern?«
»Was ich sagen will, ist, dass dein Wunsch nach einem
Vaterersatz nicht dein Urteilsvermögen trüben sollte.«
»Danke für den Hinweis.«
Am liebsten würde ich ihr den Hals umdrehen – ihr oder
besser noch Tereza, die Pascal irgendwann die herzzerreißende
Geschichte zweier Kinder erzählt hat, die ohne Vater geboren
wurden, in tiefer Nacht bei Schnee und Eis.
»Falls du Tereza noch sprechen willst, solltest du im
Halbstundentakt anrufen. Sie fährt am frühen Abend zu
irgendeiner Tagung und schaut nur kurz rein, um ihr Gepäck zu
holen. Kommt Freitag wieder.«
»Es war nicht so wichtig.« Eigentlich habe ich nur mit
jemandem reden wollen, um mein Hochgefühl zu teilen. »Sie
kann ja, wenn sie Lust hat -«
»Das Abendessen mit einem Anruf stören? Glass wird
denken, sie würde überwacht.«
»Sie soll ja nicht Glass, sondern mich anrufen.«
»Wie du meinst. Ich richte es ihr aus. Versprechen kann ich
aber nichts.«
Ich trete aus der Telefonzelle auf die Hauptstraße, wo träger
Feierabendverkehr herrscht. Menschen hasten über die
Gehsteige, erledigen letzte Einkäufe, Plastiktaschen in den
Händen, Kinderwagen vor sich herschiebend. Jeder von ihnen
müsste stehen bleiben und mich neugierig ansehen, weil mein
Herz in alle Richtungen Funken sprüht. Es ist verrückt, dass
Scham mich ausgerechnet in diesem Moment überfällt. Ich habe
mich so sehr daran gewöhnt, die Bewohner der Stadt mit
Herablassung zu betrachten, bin so sehr davon überzeugt,
Visible mache Glass, Dianne und mich zu etwas Besonderem,
dass ich ihnen – denen da draußen, den Kleinen Leuten, den
Jenseitigen – Gefühle wie Liebe oder Zuneigung bisher einfach
abgesprochen habe. Die Geschichten, die Glass von so vielen
Frauen zu hören bekam, hätten mich schon vor Ewigkeiten
eines Besseren belehren müssen.
Dann sehe ich Dianne auf der gegenüberliegenden
Straßenseite. Sie steht an der Hauptbushaltestelle, die dort erst
existiert, seit vor ein paar Jahren der Zugverkehr mangels
Fahrgastaufkommen eingestellt und der kleine städtische
Bahnhof, an dem Glass vor über siebzehn Jahren hier ankam,
geschlossen wurde. Neben Dianne steht ein Mädchen mit
kurzen, strohblonden Haaren, das ich nicht kenne. Es muss die
Freundin sein, mit der Kat sie in der Schule gesehen hat. Für
einen winzigen Augenblick lähmt mich der Gedanke, Dianne
habe eine Geliebte – ihre eigene Pascal -, und ich überlege, ob
es dieses blonde Mädchen ist, zu dem
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