Andreas Steinhofel
Versuch einer Antwort.
»Ah. Na dann.«
Er lächelt und sieht mir dabei direkt in die Augen. Es gelingt
mir, seinem Blick standzuhalten, aber natürlich ist die ganze
Sache längst gelaufen. Falls Nicholas bisher noch nicht auf die
Idee gekommen ist, dass ich mich seinetwegen länger auf dem
Sportplatz aufgehalten habe, weiß er es spätestens jetzt. Ich
unterdrücke nur mit Mühe den Impuls, endgültig den Rückzug
anzutreten und schreiend aus der Bücherei zu stürmen, die
Situation ist mir so peinlich. Und noch nicht ausgestanden.
»Warte übermorgen auf mich, okay?«
»Was?«
»Warten. Übermorgen. Du auf mich.« Das Grinsen hat sein
Gesicht nicht verlassen. Inzwischen muss er mich für einen
kompletten Idioten halten.
»Warum?«
Er zuckt die Achseln. »Warum nicht?«
Ende der Fahnenstange. Mein Gehirn setzt einfach aus – beide
Hälften. Ich fühle mich wie betäubt. Es ist keine große
Beruhigung, in diesem Moment festzustellen, dass ich nicht der
Einzige bin, auf den Nicholas eine solche Wirkung hat. Hebeler
hat während unserer Unterhaltung an seinen Lippen gehangen
und jedes seiner Worte aufgesogen wie verdurstende Erde, auf
die ein lang ersehnter Regen fällt. Der Grund dafür ist nicht
bloße Neugier. Zum ersten Mal kommt mir der Gedanke, dass
Nicholas seine Freunde möglicherweise nicht nur der Tatsache
zu verdanken hat, dass er ein guter Sportler ist, sondern dass er
vielleicht auf alle Menschen eine magnetische Anziehungskraft
ausübt. Es muss an der Schwärze liegen, die ihn umgibt,
schwarzes Haar, schwarze Augen, das dunkle Lächeln. Vor
allem dieses Lächeln macht süchtig.
»Also, ich stell dann noch rasch die Bücher zurück«, sage ich,
an Hebeler gewandt. Sie erinnert mich an einen unglücklichen
zappelnden Vogel, der auf einer Leimrute festklebt. Ihre
Antwort ist ein unverständliches Fiepen. Sie hat kapituliert.
Ich greife nach dem Bücherstapel. Kurz, wie aus Versehen,
legt sich die Hand des Läufers auf meine. »Ich mach das
schon«, höre ich ihn sagen. »Muss schließlich üben.«
Mehr ist nicht auszuhalten. Ich nicke, bringe irgendwie meine
Hand wieder an mich, mache ein paar Schritte rückwärts und
frage mich im selben Moment verärgert, wie lange er seine
Hand wohl auf meiner hätte liegen lassen, wenn ich sie nicht
fortgezogen hatte.
Mein letzter Blick, bevor ich mich umdrehe und im
Sturmschritt die Bücherei verlasse, fällt auf Frau Hebeler. Sie
hat das Zappeln aufgegeben und thront jetzt wie ein in sich
versunkener Buddha auf ihrem Drehstuhl, ein feines Lächeln
um die sonst so angespannten Mundwinkel. Ihre spitzen
Wangen leuchten, zum ersten Mal erscheint sie mir körperlich,
nicht mehr transparent. Vielleicht überlegt Hebeler, ob sie den
Knoten in ihrem Nacken lösen und mit einem Lachen das
rabenschwarze Haar nach vorn schütteln soll.
ICH VERLASSE DAS RATHAUS, laufe die Hauptstraße
hinunter und stürme in die nächste Telefonzelle.
»Tereza?«
»Nein, Pascal.«
»Oh… Hier ist Phil. Ist Tereza zu Hause?«
»Phil, was ist los mit dir?«, tönt mir Pascals niederländischer
Akzent entgegen. »Es ist heller Nachmittag. Tereza steckt in der
Kanzlei und arbeitet.«
Natürlich tut sie das. Nur weil Glass heute frei hat, bin ich
fälschlicherweise davon ausgegangen, dass auch Tereza nicht
arbeiten muss. Pascal hingegen ist praktisch immer zu Hause.
Bevor sie bei Tereza eingezogen ist, hat sie irgendwo an der
holländischen Küste gelebt und als Bootsbauerin gearbeitet.
Inzwischen verdient sie sich ihren Lebensunterhalt ziemlich
erfolgreich damit, an Wochenenden auf Flohmärkten
handgeschnitzte, mit Bernsteinsplittern gespickte Holzanhänger
für Halsketten und Armbänder zu verkaufen.
Ich höre sie am anderen Ende der Leitung atmen. Sie wartet
darauf, dass ich fortfahre und etwas sage; ich bin am Zug.
Tereza hat einmal behauptet, ihre grobschlächtige Freundin sei
eine Frau, die das Leben als einen einzigen großen
Tauschhandel betrachtet. Mein Herz für deines, hat Pascal ihr
zu Beginn ihrer Beziehung auf einer ansonsten schneeweißen
Postkarte geschrieben, die noch heute in Terezas Küche an
einem Pinnbord hängt. Ein Leben für ein Leben.
»Würdest du Tereza ausrichten, dass ich angerufen habe? Ich
müsste mal mit ihr sprechen?«
»Warum setzt du dich nicht in den nächsten Bus, kommst hier
vorbei und wartest auf sie?«
»Das geht nicht. Glass erwartet Besuch. Sie kocht ein
Abendessen, und ich habe ihr versprochen,
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