Andreas Steinhofel
und an Bord der
Nautilus erforschte ich neben Kapitän Nemo die Tiefen einer
kalten, Schrecken erregenden Welt zwanzigtausend Meilen
unter den Meeren.
Manche Fluchten waren einfach. Es gelang mir, für Tage,
manchmal für Wochen, die Realität völlig auszublenden. Die
Abenteuer, in die ich von den entliehenen Büchern entführt
wurde, mochten so bunt und so verschieden voneinander sein
wie die Geschichten aus Tausendundeiner Nacht, doch sie
hatten immer denselben Effekt: Sie umgaben mich wie ein
schützender Mantel und verbargen mich so vor den Kleinen
Leuten, vor der Welt da draußen. Deshalb liebte ich die
Bibliothek. Für mich war sie die Mitte der Welt.
Ironischerweise sollten es Bücher aus dem Besitz Diannes
sein, die schließlich einige der Regale füllten – keine Bücher im
eigentlichen Sinne, sondern an die drei Dutzend dickleibige,
von Hand gebundene Folianten mit Buchdeckeln aus
samtweichem Leder, deren Seiten einen von Dianne
argwöhnisch gehüteten Schatz verbargen: die Herbarien von
Terezas Vater. Unzählige Pflanzen aus aller Welt waren darin
versammelt, ein winziger Ausschnitt aus dem bunten Kosmos
botanischen Lebens, über Jahrzehnte hinweg in geduldiger
Forschungsarbeit von dem Professor zusammengetragen,
sorgfältig gepresst und katalogisiert.
Die Herbarien gehörten zu den wenigen Kostbarkeiten, die
Tereza aus dem Besitz ihres verstorbenen Vaters behalten hatte.
Viele Möbel und allerlei Kleinkram waren auf dem Sperrmüll
gelandet oder verkauft worden. Tereza hasste Erinnerungen.
Ihrer Ansicht nach nagelten sie die Menschen in der
Vergangenheit fest und verhinderten, dass man sich
weiterentwickelt. Als sie bei unseren sommerlichen
Spaziergängen immer öfter feststellte, dass Dianne ein
anhaltendes, weit über die Kenntnis bloßer Namen
hinausgehendes Interesse an Pflanzen zeigte, vermachte sie ihr
kurzerhand die Herbarien.
Dianne war von den Sammelwerken nicht zu trennen. Keine
Woche verging, in der sie nicht die Bibliothek aufsuchte und die
alten Folianten sorgfältig abstaubte, um anschließend, auf dem
Bauch liegend, für Stunden darin zu blättern. Meist hatte sie
dabei einen Weltatlas an ihrer Seite – das einzige Geschenk, das
sie je von Gable angenommen hatte -, auf dessen Karten sie die
genauen Fundorte einheimischer und exotischen Pflanzen
ausfindig machte. Die Namen der Kontinente und Länder
standen, neben einer Vielzahl anderer Informationen, auf einem
jeder der gepressten Pflanzen beigehefteten Blatt: genauer
Fundort, Vegetationsperiode, Beschaffenheit und
Besonderheiten des Bodens, die Inhaltsstoffe von
Blutenständen, Laub und Wurzeln und deren pharmazeutische
Verwendungsmöglichkeiten. Schließlich begann Dianne selbst
Pflanzen zu sammeln, und schon bald ergänzten ihre eigenen
Herbarien die bereits vorhandenen in den hohen Regalen. Ein
kleines Zimmer, schräg gegenüber der Bibliothek, füllte sich
mit Utensilien, die man zum Sammeln, Bestimmen und Pressen
benötigte: eine Botanisiertrommel, eine Pflanzenpresse, diverse
Lupen, sogar ein kleines Mikroskop, das Dianne sich von Glass
zum Geburtstag schenken ließ. Mehrere Fächer eines
wackeligen alten Regals dienten der Aufbewahrung von bunten
Töpfchen und mit Schraubdeckeln verschlossenen Gläsern,
gefüllt mit zerriebenen Blättern, getrockneten Wurzelstücken
und Pflanzensamen; jedes einzelne Glas trug ein Klebeetikett,
das Dianne mit ihrer krakeligen Kinderschrift beschrieben hatte.
Ich schlich mich oft in dieses Zimmer, betrachtete die Schätze
voll andächtiger Neugier und studierte die lateinischen Namen
auf den Etiketten, berührte aber nie etwas. Noch öfter stand ich
vor den Regalen in der Bibliothek und blätterte mich, ziellos
und nicht an der Wissenschaft, sondern einzig an Schönheit und
Farben interessiert, durch die vielen Herbarien. Ich tue das auch
heute noch, und zum Lesen ziehe ich die Bibliothek ohnehin
allen anderen Räumen Visibles vor.
Vor drei Jahren hat auch Glass damit begonnen, die
Bibliothek aufzusuchen, für die sie bis dahin nicht die kleinste
Spur von Interesse gezeigt hat. Wenn ich durch den Garten
streife, kann ich sie hinter der Flügeltür beobachten. Sie sitzt auf
meinem Thron der Geschichten, ihre Hände liegen ruhig auf den
Lehnen. Immer ist sie den Herbarien zugewandt, die Augen mal
geöffnet, meist aber geschlossen; in solchen Momenten bin ich
mir nie sicher, ob sie schläft oder nur tagträumt. Da ich sie nie
in
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