Andreas Steinhofel
einem Buch oder einem der Herbarien blättern sehe, nehme
ich an, dass sie einfach etwas Ruhe und Abgeschiedenheit sucht
– obwohl es in Visible unzählige andere Räume gibt, in denen
sie beides finden könnte. Glass ist am seltensten von uns allen
in diesem Raum, in dem Geschichten beginnen und enden.
WENN ES ÜBERHAUPT irgendein auf Amerikaner
gemünztes Klischee gibt, das auf Glass hundertprozentig
zutrifft, dann ist es das von der ausgeprägten Vorliebe für
Junkfood. Pappiges Weißbrot schleppt sie mit derselben
Begeisterung an wie voll entrahmte Milch. Überzuckerte
Cornflakes oder fettfreien, mit Konservierungs Stoffen voll
gepumpten Schinken hält sie für Grundnahrungsmittel, und
vermutlich ist Glass auch die einzige Frau auf der Welt, die sich
jemals ernsthaft mit der Frage auseinander gesetzt hat, ob
Kartoffeln schon als Trockenpulver geerntet werden.
Als Kind habe ich Glass nur ungern und mit Bauchgrimmen
zum Einkaufen begleitet. Mich störte die unverhohlene Neugier,
mit der wir in der Öffentlichkeit von den Kleinen Leuten
gemustert wurden – als wären wir exotische, aus dem Zoo
entlaufene Tiere. Obwohl die Blicke, mit denen Glass gemessen
wurde, an ihr abglitten wie an einem zentimeterdicken
Stahlpanzer, hatte ich das Gefühl, sie davor beschützen zu
müssen. Als Dreikäsehoch nicht zu wissen, wie ich das
anstellen sollte, erfüllte mich mit frustrierender Hilflosigkeit.
Der trotz dieses Dilemmas vor Jahren gefasste Entschluss,
meine Mutter nach Möglichkeit nie allein zum Einkaufen gehen
zu lassen, war purem Selbsterhaltungstrieb entsprungen.
Irgendwann erwachte in mir die Sehnsucht nach unbehandeltem
Obst und nach frischem Gemüse; beides erstand Glass aber nur
dann, wenn ich ihr beim Einkaufen quengelnd mit meinen
Wünschen in den Ohren lag. Letztlich war es nicht mehr als ein
Tauschgeschäft: Ich nahm die unverhohlene, penetrante
Neugierde der Kleinen Leute in Kauf für den Genuss reinen
Joghurts, aus dem einen nicht rudelweise künstlich aromatisierte
Erdbeeren ansprangen, sobald man den Becher öffnete.
Was Glass nie aus dem Supermarkt mitbringt, ist Alkohol, den
sie, abgesehen von einem Glas Sekt zum Jahreswechsel oder zu
Geburtstagen, mit fast religiösem Eifer ablehnt. Dass sie an
diesem Nachmittag gleich vier Flaschen italienischen Weißwein
in den Einkaufswagen legt, kann daher nur eines bedeuten.
»Soave?«, sage ich nach einem Blick auf die Etiketten. »Wer
kommt zu Besuch?«
»Michael.«
Es dauert einen Moment, bis ich schalte, »Das Betrugsdelikt?«
»Ebendieses.«
»Ich wusste gar nicht, dass du dich noch mit ihm triffst.«
»Du bist ja auch nicht meine Sekretärin, Darling. Ich kann
meinen Terminkalender ganz gut allein verwalten.«
Mir fällt ein, dass sie in den letzten vier Wochen mehrmals
abends länger ausgeblieben ist. Ich habe mir darüber keine
Gedanken gemacht, genauso wenig wie über die Frage, ob
Dianne zu weiteren nächtlichen Streifzügen aufgebrochen ist, zu
wem und warum auch immer. Meine Gedanken sind zu sehr mit
Nicholas beschäftigt gewesen.
»Ich gehe zur Fleischtheke«, sagt Glass. »Holst du schon mal
Reis? Du weißt schon, welchen.«
Ich schiebe den Einkaufswagen weiter, lege eine Packung
Reis hinein, der mit industrieller Sorgfalt von allen Vitaminen
und Mineralstoffen befreit worden ist, und schmuggele ein
Pfund Vollkornnudeln darunter. Als Glass von der Fleischtheke
zurückkommt, bringt sie in transparente Folie verpackte
Filetstreifen mit, deren Farbe von auffälliger Blässe ist.
»Ist das etwa Fisch?«
»Nein. Sie haben eine Horde Schweine mit Pigmentstörungen
geschlachtet.« Sie pfeffert die Filets achtlos in den Wagen.
»Natürlich ist das Fisch.«
»Aber wir haben noch nie Fisch gegessen. Seit wann -«
»Seit heute.«
Vier Flaschen Wein sind eine Sache. Ein komplettes Essen ist
eine völlig andere. »Du kochst für ihn?«
Glass hebt beide Hände, wie um einen Angriff abzuwehren.
»Kein Grund, aus den Schuhen zu fallen, okay? Warum sollte
ich nicht für ihn kochen?«
»Weil du das noch nie für einen Mann getan hast.«
»Dann fange ich eben heute damit an.«
Ihre Nervosität ist beinahe greifbar. Sie angelt wahllos eine
Konservendose mit Mais aus dem nächsten Regal. Ich hätte nie
für möglich gehalten, dass meine Mutter mir ausgerechnet in
einem Supermarkt mitteilen wird, dass sie bei einem Mann
mehr oder weniger feste Absichten hat. Festere jedenfalls als
sonst. Um mich nicht ansehen
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