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Andreas Steinhofel

Andreas Steinhofel

Titel: Andreas Steinhofel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Mitte der Welt
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hier zu Hause gefühlt.«
»Das tue ich auch«, gibt Dianne zurück. »Ich mag Visible,
und ich mag die Stadt.«
»Aber die Stadt mag uns nicht«, beharre ich.
»Sie mögen Glass nicht«, gibt Dianne ebenso hartnäckig
zurück. »Das ist ein Unterschied.«
Das Gespräch hat eine Wendung genommen, die mir nicht
gefällt. Die Stimmung beim Abendessen ist so entspannt
gewesen, dass ich bereits überlegt habe, Dianne auf das blonde
Mädchen anzusprechen, mit dem ich sie an der Bushaltestelle
gesehen habe, oder darauf, wo sie heute Nachmittag gewesen
ist. Den Plan kann ich vergessen, solange es um Glass geht.
»Glaubst du etwa«, sage ich, »sie hätte so viele Kundinnen,
wenn jeder sie hassen würde?«
Dianne gibt einen verächtlichen Laut von sich. »Diese blöden
Weiber! Die kommen in hundert Jahren noch, weil sie nicht
begreifen wollen, dass es ihnen besser ginge, wenn sie ihre
Männer sitzen lassen würden.«
»Glass hat nichts anderes getan.«
»Ja, ungefähr zehn- oder zwanzigmal pro Jahr.« Dianne
wendet sich mir zu. »Sie wollte immer nur Sex, und deshalb
hält jeder sie für eine Schlampe.«
»Du auch?«
»Nein. Aber deshalb muss ich ihr Verhalten noch lange nicht
korrekt finden, oder?«
»Warum musst du es überhaupt irgendwie finden?« Wir sind
lauter geworden. »Du tust so, als hätte das Glass zu einer
schlechten Mutter gemacht.«
»Mein Gott, das habe ich nie behauptet, ich bin ja nicht völlig
verblödet!« Diannes Stimme bekommt langsam einen scharfen
Unterton. »Ich weiß, dass sie sich ein Bein für uns ausgerissen
und es immer gut gemeint hat. Aber es war ihr dabei scheißegal,
wie wir von den Leuten beglotzt wurden wegen ihrer
Eskapaden! Sie hat ihre eigenen Regeln aufgestellt, und wir
müssen dafür bezahlen. Glass war und ist völlig egoistisch.«
»Und? Wer hat behauptet, eine Mutter müsse sich
hundertprozentig für ihre Kinder aufopfern.«
»Ach, Scheiße, Phil! Vielleicht hätte das mal jemand tun
sollen!«
Ohne eine Antwort abzuwarten, dreht Dianne sich um und
marschiert ins Haus zurück. Ich sehe ihr hilflos nach. Das
Verrückte ist, dass ich wahrscheinlich nicht einmal etwas hätte
erwidern können, weil ich ihr im Kern Recht gebe. Dass Glass
sich den Teufel darum schert, wie sie selbst, Dianne oder ich
von der Außenwelt wahrgenommen wird, mag tatsächlich
egoistischen Motiven entspringen. Aber es ist nicht Glass, die
den Jenseitigen vorschreibt, wie sie derlei Motive einzuordnen
und zu beurteilen haben. Was die ersehnte Akzeptanz durch die
Stadtbewohner angeht, kämpft Dianne einen einsamen Kampf.
Auf mich kann sie nicht zählen. Ich muss nicht einmal den
Gedanken daran bemühen, mich als Junge in einen Jungen
verliebt zu haben, um zu dem Schluss zu kommen, dass die
Meinung der Kleinen Leute mir mindestens ebenso gleichgültig
ist wie meiner egoistischen Mutter.
SO KAM DER MOND ZU SEINEN FLECKEN
    MANCHE VERÄNDERUNGEN KOMMEN über Nacht. Du
gehst abends zu Bett, schläfst ruhig und tief, und am folgenden
Morgen erwachst du und stellst fest, dass alles anders ist als
zuvor. Du kannst dir nicht erklären, was geschehen ist, denn die
Sonne ist aufgegangen wie an jedem Morgen, und da hängt
immer noch dieses Bild an der Wand, das du längst abhängen
wolltest. Die Farben der Welt sind dieselben geblieben. Nur bei
genauerem Hinsehen glaubst du zu entdecken, dass sie eine
Spur heller oder dunkler als bisher erscheinen, doch das ist eine
Täuschung: Es ist deine Wahrnehmung, die sich verändert hat,
weil du selbst von heute auf morgen ein anderer geworden bist.
Und deshalb hängst du jetzt auch dieses verdammte Bild ab.
    Andere Veränderungen kündigen sich an. Du spürst sie auf
dich zukommen, langsam und unabwendbar wie den Wechsel
der Jahreszeiten. Kleine und große Ereignisse gehen solchen
Veränderungen voraus, die in keinerlei Zusammenhang zu
stehen scheinen. Doch irgendetwas im hintersten Winkel deiner
Psyche setzt diese Ereignisse und ihre Folgen geduldig
zusammen wie ein Puzzlespiel, und im selben Maße, wie das
Puzzlebild Gestalt annimmt, vollzieht sich in deinem Inneren
ein Wandel, Stück für Stück, Schritt für Schritt: eine Art
unbemerkter, zweiter Geburt.
    Es gab ein Jahr, in dem eine Vielzahl solcher großen und
kleinen Ereignisse für mich zusammenfielen.
Es war das Jahr, zu dessen Beginn ich auf den verschneiten
Treppenstufen der Stadtkirche Nicholas gesehen hatte und
unmittelbar darauf den Verlust meiner Schneekugel

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