Andreas Steinhofel
bemerken, war Kats Vater
dem Sirenengesang meiner Mutter erlegen. Seit der Schlacht am
Großen Auge war die Zahl der Kundinnen, die Glass bei Nacht
und Nebel aufsuchten, beständig gewachsen.
Kat wurde also zu einer regelmäßigen Besucherin Visibles,
nicht nur zu meiner, sondern auch zu Diannes Freude. Dianne
hatte Kat auf Anhieb gemocht, es war einer der seltenen Fälle,
in denen sie ihr sonst so wachsames Misstrauen aus freien
Stücken ablegte und uneingeschränkt Zuneigung verschenkte.
Doch Kat lotete aus. Über Monate hinweg beobachtete sie
Diannes und meinen Umgang miteinander und füllte dabei, von
uns unbemerkt, unsichtbare Waagschalen mit den Gewichten
der Eifersucht. Schließlich ließ sie Dianne fallen. Ihre Besuche
wurden seltener, dann blieben sie ganz aus. In der Schule
erklärte sie mir, Dianne sei seltsam und würde ihr Angst
einjagen; dass sie einmal beobachtet habe, wie meine Schwester
im Garten mit einer Eidechse gesprochen habe, gesprochen
habe!; Dianne sei eben einfach verrückt.
Es sollte das letzte Mal sein, dass ich Dianne weinen sah.
Über Wochen hinweg schlugen alle Versuche sie zu trösten
fehl. Glass und ich waren ratlos. Aus Gründen, die sie uns nicht
erläuterte, fasste Dianne das Ende ihrer Freundschaft mit Kat als
Strafe auf; ebenso wenig wie ich vermochte sie damals zu
begreifen, dass Kats abrupte Abwendung mit ihrer Person im
eigentlichen Sinn nichts zu tun hatte. Stattdessen redete sie sich
ein, dass, was auch immer sie berührte, dazu verurteilt war,
unter ihren Händen zu zerbrechen, und dass nichts zurückblieb
als Scherben. Als Kat die Besuche Visibles wieder aufnahm,
kündigte sie ihr Kommen regelmäßig an. Dann verschwand
Dianne für den Rest des Tages, um mich mit meiner Freundin
und einem schmerzenden schlechten Gewissen zurückzulassen.
Es war das Jahr, in dem ich an einem augustheißen Tag mit
Wolf sprach. Er fand keine Erklärung dafür, warum ich ihn im
Sommer zuvor allein im Wald zurückgelassen hatte und aus
welchem Grund ich ihm danach aus dem Weg gegangen war. Es
schien ihm gar nicht in den Sinn zu kommen, dass er mit dem
Erschießen der Vogeljungen etwas Unrechtes getan hatte. Und
ich wagte nicht zu erklären, dass, wann immer ich ihn sah oder
an ihn dachte, sein blutverschmierter Mund und seine mit
eigenem, schrecklichem Leben erfüllte Stirn vor meinem
inneren Auge auftauchte. »Was machst du ohne mich, Phil?«,
fragte er, und aus seiner tonlosen Stimme sprach weder Trauer
noch Vorwurf. Auf seine Frage wusste ich keine Antwort. Ich
fühlte mich wie trockenes Holz.
Es war das Jahr, in dem Dianne und ich uns zum letzten Mal
gemeinsam unter dem Küchentisch versteckten, um die
Gespräche unserer Mutter mit ihren Kundinnen zu belauschen.
Dieses gelegentliche Spionieren hatte eine gewisse Tradition,
wir praktizierten es seit vielen Jahren, und ich bin mir sicher,
dass Glass davon wusste. Das leise Schaben zu ihren Füßen,
wenn Dianne oder ich bei zu langen Sitzungen unruhig oder
müde wurden und unser Gewicht verlagerten, konnte ihr
unmöglich entgehen, aber sie sprach uns nie darauf an. Dianne
und ich lernten hässliche Worte dort unter dem Tisch, Worte,
die in keinem Lexikon erklärt wurden. Wir wussten
verschiedene Besucherinnen schon bald anhand ihrer
gedämpften Stimmen voneinander zu unterscheiden, mit denen
sie Glass in ihre Geheimnisse einweihten – Geheimnisse, die so
banal sein mochten, dass Dianne gegen mich gelehnt einschlief
und ich sie grob wecken musste, nachdem die Frauen die Küche
verlassen hatten, und dann wieder von solcher Grausamkeit,
dass selbst der um Visible heulende Herbstwind verstummte,
um gebannt zu lauschen.
Es war das Jahr, gegen dessen Ende Tereza sich dem zu
erwartenden Silvestertrubel entzog und zu Freunden fuhr, die
ein kleines Haus an der holländischen Küste besaßen, wo sie
einige ruhige Tage verbringen wollte. Als sie wiederkam, war
sie nicht allein. Sie stellte uns Pascal vor, die Dianne und ich
übereinstimmend zu breitschultrig, überhaupt hässlich und
bestenfalls deshalb interessant fanden, weil sie Bootsbauerin
war, was in unseren Ohren höchst exotisch klang. Unsere
Abneigung gegen Terezas Liebhaberin entsprang bloßer
Eifersucht, denn Tereza besuchte uns jetzt immer seltener. Wir
vermissten das Popcorn.
Es war das Jahr, in dem ich einen Reisebericht von Gable
erhielt, einen zerknitterten Brief aus irgendeiner der vier Ecken
der Welt. Gable schrieb, er
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